Reges Leben im Haus der Familie Gotthardt Collin

Veröffentlicht von anais

 Reges Leben im Haus der Familie Gotthardt Collin

       Renate Celmer erinnert sich an ihre Kindheitsjahre ab 1943 in Lychen

Eine Anfrage zum geplanten Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses in der Stargarder Straße, gelesen in der NLZ vom 07. 02. 2024 unter „Wer fragte was?“, erweckte meine Neugier. Was passiert mit dem Parkplatz neben der Mühle?

Zugleich wurden Kindheitserinnerungen wach, und die Stargarder Straße mit ihren schönen alten Häusern vom Markt bis zum StargarderTor stand plötzlich wieder vor meinen Augen.

Denn dort, wo sich heute der Parkplatz befindet, habe ich als Kind mehrere Jahre gewohnt. Zwischen dem Haus meiner Urgroßeltern, Familie Gotthardt Collin, und der Mühle stand noch ein kleineres Wohnhaus. Dort wohnten Familie Damm mit den Kindern Eva und Heinz und Familie Petschack (?).  Eva wurde Lehrerin.

Als wir 1943 aus Berlin evakuieren mussten, wählte meine Mutter, Margarete Zinn, geb. Collin, die Rückkehr in ihre Geburtsstadt Lychen zu ihren Eltern Max und Luise Collin, die ein Wirtschaftswarengeschäft in der Stargarder Straße in einem Haus schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite führten.

Platz für meine Mutter und uns vier Kinder gab es aber im Haus meiner Urgroßeltern. Unsere Uroma lebte nicht mehr, aber die Schwester unseres Opas, Elise Schwarz, geb. Collin, wohnte wieder hier und nahm uns auf.

Dieses große Haus mit den verschiedenen Einrichtungen erleichterte uns Kindern zwischen drei und sieben Jahren den Übergang von der „komfortablen“ Berliner Wohnung aufs „Land“.

Einen Neubau auf dem Gelände des Parkplatzes werde ich wahrscheinlich nicht mehr erleben. Aber vielleicht interessiert es einige Lychener, wie es damals so im Vorgängerhaus zuging.

Ich habe es so in Erinnerung, wie es auf dem alten Foto zu sehen ist. Außen links wurde eine Tür zum Friseurladen von Herrn Nikodem eingebaut.

Aus der Ahnentafel „400 Jahre Collin“ ist ersichtlich, dass die Vorfahren um 1755 aus Warthe nach Lychen zugezogen sind. Namensgeber der Familie ist der um 1590 eingewanderte Hugenotte Jean de Collin. Die Vorfahren waren Brauer und Ackerbürger. Mein Urgroßvater ist 1859 in Lychen geboren Auf dem Foto steht er unter dem weißen Schild. Und mein Großvater ist 1883 geboren. Er steht rechts neben der Laterne.

 Das Haus war weitläufig, und wir Kinder hatten unser „Kinderzimmer“ in der ehemaligen vorderen Gaststube. Nur noch für gute Bekannte wurde ein Bier gezapft, wie zum Beispiel für Schuhmacher Hermann Stolte aus der Fürstenberger Straße. Der Ausschank war noch möglich durch die Bierfässer, die im Bierkeller lagerten und den Zapfhahn, den meine Tante bediente. So bekam auch ich mein Glas Malzbier zum Abendbrot. Angeblich bin ich nur groß geworden durch Eierkuchen und Malzbier.

Neben dem Bierkeller lag der Eiskeller. Die schweren Eiswürfel, aus den zugefrorenen Seen geschlagen, wurden aus dem großen Eiskeller Wichmann in der Hospitalstraße angeliefert.

Der Ausschank befand sich in einem Durchgangszimmer zum großen Saal, der seine Fenster zum Innenhof hatte. Er konnte nicht mehr für Festlichkeiten genutzt werden, weil hier eine Unterkunft mit Doppelstockbetten für holländische Fremdarbeiter eingerichtet worden war. Zur Weihnachtsfeier für diese Männer musste ich ein Gedicht aufsagen. Aber sonst war kaum Kontakt zu ihnen vorhanden.

Meine Tante war auch die Verkäuferin im kleinen Lebensmittelgeschäft. Wenn der Laden leer war, nahmen meine Schwester und ich aus dem Haferflockensack und aus dem Zuckersack - früher wurde lose verkauft - jeweils ein Schippchen heraus, füllten damit die spitze Papiertüte und stillten unseren Appetit auf Süßes. Weil alles nur rationiert auf Marken verkauft wurde, fehlten danach für diese Mengen die Marken. Beim Aufkleben der abzurechnenden Marken haben wir dann einfach geschummelt, d. h. statt 10 nur 9 in die Belege geklebt.

Der Eingangsbereich des Hauses war groß, und deshalb hatte an einer Seite eine Wäschemangel Platz. Es kamen öfter Frauen mit ihrem Wäschekorb, meistens mit Bettwäsche und Handtüchern, und manchmal durften wir Kinder auch die Mangel drehen.

Der eigentliche Wohnbereich befand sich im ersten Stock. Links lag eine kleine vermietete Wohnung. Der größere rechte Bereich gehörte meiner Tante, die uns ihr Schlafzimmer überlassen hatte. An den Dachboden kann ich mich noch als riesigen Raum mit schmalen Fenstern und einer gespannten Wäscheleine erinnern. Im Winter wurde hier die Wäsche getrocknet.

Von der Tür zum kleinen Innenhof mit kleiner Grünfläche vor dem Saal und offenem Holzschuppen als Abschluss zum tiefer liegendem Wirtschaftshof führte eine gewundene Steintreppe hinunter, vorbei an der Tür zum Bier- und Eiskeller und unter dem Saal hindurch zum Stallgebäude für Hühner und Schwein und der Waschküche. Unter dem Schuppen befand sich der ehemalige Pferdestall. Den Abschluss bildete die Mauer mit Tor zur Stabenstraße.

Oft gingen wir Mädels mit zum Mühlenbach, um vom Kahn aus oder auf der Waschbrücke beim Spülen der kleinen Wäschestücke zu helfen. Durch den glasklaren, schnell fließenden Bach in Richtung Nesselpfuhl waren auch schon mal unseren kleinen Händen Wäschestücke, meistens Taschentücher, entglitten. Schnell mussten wir sie dann zwei, drei Kähne weiter wieder einfangen.

Auch beim Futterstampfen für das Schwein durften wir dabei sein und Kartoffeln und anderes im Trog zerkleinern.

Im März 1943 wurde ich sechs Jahre alt. Der Schulbeginn war damals im Frühjahr. Deshalb wurde ich eingeschult und kam in die Berliner Klasse. Es gab nämlich zwei erste Klassen: die für einheimische und die für geflüchtete Kinder. Ob diese Trennung bis zum Kriegsende anhielt, ist mir nicht mehr in Erinnerung.

Wie viele Lychener flüchtete auch unsere „Großfamilie“, sechs Erwachsene und fünf Kinder, vor dem Herannahen der Roten Armee kurz vor Kriegsende bis nach Brennickenswerder. Ein Holländer, der im Haushalt meiner Tante geholfen hatte, brachte fast täglich Lebensmittel und die neuesten Nachrichten zu uns in den Wald.

Als Lychen angezündet wurde, verbrannten auch beide Häuser der Collins, und wir verloren alles. Daran denke ich, wenn über die heutigen Flüchtlinge, die zu uns kommen, gesprochen wird.

Renate Celmer

Redaktionelle Mitarbeit: Joachim Hantke

Veröffentlicht in der "Neuen Lychener Zeitung", Oktober-Ausgabe 2024

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