Ach! Die arme, alte Diesner!
In den Nachkriegsjahren - so um 1947/48 - gingen die älteren Damen noch nicht so modern gekleidet mit Hosen oder Röcken bis kurz unterm Knie durch die Lychener Straßen wie heute. Damals trugen die 70- bis 80jährigen dunkle, lange Röcke, die bis auf die Fußspitzen reichten. Auch die Unterwäsche war weiter und offener und deshalb sicherlich bequemer.
Ich erinnere mich, dass meine Mutter mich eines Tages am späten Vormittag an die Hand nahm und sagte: "Komm' mal mit mir mit! Wir wollen in der Fürstenberger Straße Lebensmittel einkaufen. Zuvor will ich uns mal bei Frau Becker an der Ecke für die Wäscherolle anmelden."
So liefen wir also Hand in Hand unsere Vogelgesangstraße entlang, am "Berliner Hof" vorbei. Die Straße war fast menschenleer. Plötzlich blieb meine Mutter stehen, guckte nach vorn und meinte mit großem Mitgefühl und aus vollem Herzen zu mir: "Nun sieh' doch! Ach, die arme alte Diesner mit ihrem langen, schweren Rock! Da steht sie mit einem Bein auf dem Fahrdamm und mit dem anderen auf dem Bürgersteig über der Regenrinne. Sie kommt wohl nicht hoch auf den Bürgersteig. Komm' mal etwas schneller! Wir wollen der alten Frau helfen."
Wir liefen etwas schneller. Frau Diesner sah uns nicht, denn sie stand unbeholfen mit dem Gesicht von uns abgewandt. Wir waren fast bei ihr, stieg sie auf einmal flink auf den Bürgersteig, schüttelte ordentlich den langen Rock und lief vor uns weiter die Straße entlang. Als wir an den Rinnsteig kamen, wo sie zuvor so in sich versunken verharrt hatte, sahen wir eine breite Wasserlache, die langsam am Rand des Bürgersteigs entlang lief.
"Na so was," rief meine Mutter erstaunt aus. "Gucke mal, was die Diesner hier gemacht hat!" Und ich fragte - aber nur zur Bestätigung: "Na, was hat 'se denn gemacht, Mama?"