Begegnung mit dem Leibhaftigen
Es geschah einem strahlendem Sommertag.
Am späten Nachmittag schwang ich mich auf mein Fahrrad. In kluger Voraussicht stellte ich mir einen Korb auf den Gepäckträger, denn, kann man vorher wissen, was man in Wald und Flur an guten Gaben der Natur findet? Mein kleines Taschenmesser vergaß ich nicht.
Gut gelaunt und bei besten Kräften nahm ich meinen Weg von der Vogelgesangstraße den Angelberg hinauf nach Hohenlychen durch das Gelände der ehemaligen Heilstätten, an der Helenenkapelle vorbei in die Buchheide. Von dort führt der asphaltierte Radwanderweg über Hügel und kleine Täler durch lichten, sonnendurchfluteten Laubwald bis hinunter zur Wuppgartenbrücke. Weiter die Waldstraße hinauf kommt man an die alte Templiner Landstraße. Bis nach Alt Placht sind es so an die neun Kilometer. Das sollte mir für meine Radtour an diesem Nachmittag genügen.
Ab und zu kamen mir radelnde Wanderer entgegen. Besonders Schnelle und Sportbegeisterte überholten mich, den Oberkörper gebeugt zu Stromlinienform sausten sie an mir vorbei. Ich hielt mehr vom gemütlichen Tempo. Obwohl – ab und zu geriet ich außer Puste. Stieg dann ab und schob das Rad den Hang hinauf. Auf der Wuppgartenbrücke verschnaufte ich ein Weilchen, lehnte mich übers Geländer und blickte auf den Platkowsee, der dort seine breiteste Ausdehnung hat. Etwas weiter, in Richtung Alt Placht, windet er sich etwas schmaler durch hohe, bewaldete Ufer. Still wie immer lag das Wasser. Nur weit in der Ferne saß ein Angler geduldig in seinem Boot und hoffte auf einen Fang.
Bevor ich mich wieder auf das Rad setzte, schaute ich in meinen Korb, ob wohl die Banane und zwei Äpfel nicht heraus gefallen wären. „Na“, dachte ich so bei mir, „auf der Rückfahrt machst Du noch einen Abstecher in den Busch, in der Nähe der Stelle, wo einmal vor langer Zeit eine Glashütte gestanden hat“. Dort hinten, am Rande des Platkowufers findet der Sammler mit geübtem Auge unter den Buchen manch' feine Pfifferlinge.
So trat ich wieder kräftig in die Pedalen, gab Dampf, die steile Straße hinauf bis zur Kreuzung, denn dieser Weg führt geradeaus über die Gleise der Draisinenstrecke bis zur Templiner Chaussee. Dahin wollte ich nicht, denn mein Ziel war Alt Placht.
Also bog ich auf der Kreuzung rechts ab. Die linke Seite des Radweges entlang zieht sich der alte Mischwald mit Kiefer- und Buchenbestand. Auf der rechten Seite wächst reiner Kiefernwald, wo nicht nur Lychener sondern auch so manche Berliner Heidelbeeren pflücken. Und – siehe da! Ein paar abgestellte Pkws standen dort wie so oft.
Jetzt musste ich mich wieder anstrengen, denn es ging auf und nieder. Eine lange Strecke bis zur alten Försterei Alt Placht. Kurz davor, am Rastplatz, machte ich mein Picknick mit Banane und Äpfeln. Einen erfrischenden, kalten Tee ließ ich meine durstige Kehle hinunter fließen.
Nun sollte das eigentliche Abenteuer beginnen.
Einige Meter nach dem Feldstein mit der Aufschrift „Glashütte“ stieg ich ab und schob das Fahrrad in den Waldweg. Den Platz merkte ich mir genau, denn es kam schon vor, dass ich meinen Drahtesel nicht wiedergefunden hatte. Mit dem Korb in der Hand und dem Taschenmesser bewaffnet lief ich über Moos und Gras mit suchendem Blick auf die alten Buchen zu.
Ja, da leuchteten sie schon, die Pfifferlinge! Sie standen wie gesät. Lange musste dort kein anderer gewesen sein. Ach, wie freute ich mich! Rings um mich herum lag Waldesstille. Ich spürte bereits den herannahenden Abend. Ab und zu, wie dieses Mal, kniete ich mich nieder, um die Pfifferlinge zu schneiden. Einen kurzen Augenblick schaute ich auf, um nach weiteren, pfundigen Stellen zu suchen.
Und - in diesem Augenblick erstarrte ich vor Schreck! Höchstens, aber allerhöchstens zwanzig Meter von mir entfernt schaute mich ein großes Anlitz an. Oh Schreck! Zwei lange, gebogene, graue Hörner! Ein schwarzweißes Gesicht mit weißem Bart! Das Wesen starrte mich an. Ich starrte zurück. „Jetzt hat Dich gleich der Leibhaftige“, dachte ich mir völlig ratlos.
Wie lange wir uns gegenüber gesessen haben, weiß ich nicht mehr. Vor Furcht erhob ich mich langsam, trat einige Schritte rückwärts und lief in den Schatten der Buche zurück. Ich schaute wieder zum Leibhaftigen. Der lag immer noch im Gras, und ich sah - wie er mit vollem Wohlbehagen kaute! „Ein Glück! Der scheint ja friedlich zu sein“, dachte ich voller Erleichterung.
Das Pfifferlingsuchen brach ich ab. Ich hatte genug. Auf der Rückfahrt kam ich nicht aus dem Grübeln. Was war das nur für ein Ungeheuer?
Zu Hause, in Lychen, klärten mich sachkundige Freunde auf: „Dort oben haben die Förster Mufflons angesiedelt. So eine Art Wildschafe. Da wirst Du wohl einem stattlichen Bock begegnet sein. Vielleicht war es auch ein entlaufener Ziegenbock, der sich an den Waldkräutern labte.“
Oh! Ich nahm alle vorherigen Vermutungen zurück! Wie gerne hätte ich meinen „Leibhaftigen“ noch einmal getroffen. Aber nie habe ich ihn wieder zu Gesicht bekommen.