Der kleine Kastanienhut - Eine Weihnachtsgeschichte
Bevor ich Euch erzähle, was der Kastanienhut erlebt hat, sollte ich Euch verraten, wer der Kastanienhut eigentlich ist.
Also, das ist wiederum eine Geschichte, auf die ich lange zurückgreifen muss. Eigentlich heißt der Kastanienhut gar nicht Kastanienhut. Diesen Namen hatte er sich eines Nachmittags zu Hause selber gegeben.
Ich war zum Besuch eingetroffen. Mit Vati, Mutti und dem dreijährigen Samuel aßen wir fürstlich zu Mittag, denn die Hausherrin hatte einen deftigen Schweinebraten für uns zubereitet. Es war wohl zur Sommerzeit, denn überall rings um dem hübsche Häuschen grünte und blühte es so schön, als gäbe es nur diese einzige Jahreszeit.
Nach dem Essen spazierten wir durch den Garten. Samuel rief mich und zeigte auf den großen, dichtbelaubten Kastanienbaum am Rande des Anwesens gleich neben der Straße. „Gucke mal, mein Kastanienbaum,“ lachte er wie ein stolzer Besitzer. Wir kehrten wieder zurück ins Haus, setzten uns zum Kaffee und vertieften uns in ein Gespräch.
Plötzlich hörten wir, wie der kleine Samuel fröhlich ausrief: „Kastanienhut, Kastanienhut!“ Er kam ins Wohnzimmer gelaufen mit einem dicken, braunen Kissen auf dem Kopf. Das war also der Kastanienhut. Und so nannte ich ihn fortan für mich, wenn ich an ihn dachte.
Und jetzt, gerade zur Weihnachtszeit, so erfuhr ich vom Hören und Sagen, muss doch der Kastanienhut etwas ganz Besonderes erlebt haben.
Am Nachmittag nämlich, bei strahlendem Sonnenschein, lief er allein in den Garten bis an den Rand zum Zaun, hinter dem der große, alte Kastanienbaum stand. Kastanienhut blinzelte etwas in der Sonne. Eine Wolke schob sich vor den strahlenden Schein. Nun öffnete er seine großen, schwarzen Augen und schaute auf den Baum, der voller Kastanienkugeln hing. Hier und da waren sie bereits aufgeplatzt. Braun schienen sie aus der stacheligen, grünen Hülle springen zu wollen.
Wieder schickte die Sonne ihre Strahlen durch das dichte Laub, und wieder verdunkelte sie sich zu einem geheimnisvollen Zwielicht. Kastanienhut rieb sich die Augen, schloss sie, zwinkerte mehrmals und öffnete sie wieder. Sie wurden größer und größer. Mit weit geöffnetem Mund stand der Kastanienhut und blickte wie gebannt auf Blätter und Früchte, die sich allmählich verwandelten. Rot und silbern blinkende Kugeln schmückten den Baum. Mehr und mehr kamen hinzu. Die Blätter wurden spitzer und spitzer zu einem tiefen Grün, bis sich der ganze Kastanienbaum in einen großen, runden Weihnachtsbaum verwandelt hatte.
Kastanienhut blickte auf die ihm am nächsten hängende silberne Kugel. Größer und größer, durchsichtiger und durchsichtiger wurde sie und schwebte zu ihm heran. Zaghaft wollte er sie berühren. Aber seine kleine Hand glitt in sie hinein, als hätte sie keine Hülle mehr. Die Kugel war verschwunden.
Stattdessen sah er Vati und Mutti und auch mich in einem lichten Wald mit hohen Kiefern und jungen, hellgrünen Buchen. Weiches Moos bedeckte die Hänge. Kastanienhut selbst stand mittendrin. Ganz fest hielt er sein kleines Körbchen in der Hand. Schnell lief er auf die Mutti zu, die sich wieder und wieder bückte und aus dem Moos frische Pilze pflückte. Kastanienhut sprang an ihr vorbei, denn auch er entdeckte ein braunkappiges Pilzmännlein. Die Mutti sah hin und erinnerte ihn: „Bevor du den Pilz in deinen Korb tust, musst du erst Joachim fragen, ob er gut und nicht giftig ist.“
Gleich rief mich der flinke kleine Kerl und sprang über Äste und Gesträuch auf mich zu: „Joachim, ist das ein guter Pilz?“ „Na klar, sagte ich, er ist essbar. Leg ihn in deinen Korb.“ Kastanienhut tat schnell wie geheißen. Er lief den Hang hinunter zu Vati, denn er war doch allzu neugierig, ob der schon viele gesammelt hatte. Vati ließ ihn in seinen Eimer schauen, meinte aber: „Suche du dir deine Pilze selbst und zeige sie uns dann.“
Kastanienhut nahm die Worte als Ermutigung. Schnell lief er weiter den Hang hinunter zu den Buchen. Die herabhängenden Zweige schob er beiseite. Seine Schuhe sanken in das braune Laub auf dem Waldboden ein. Noch ein paar Schritte, und er stand vor einer Lichtung.
Vor Staunen vergaß er sein Pilzesammeln. Auf der weiten Waldwiese ästen drei Rehmütter mit ihren Kietzlein. Mit ihren großen Augen schauten die Rehe auf den Kastanienhut. Gerade mit solchen schönen schwarzen Augen wie er sie selber hatte. Ein kleines Reh lief etwas zögernd auf ihn zu. Kastanienhut schien, als würde das kleine Kietzlein denken: „Was ist das für ein seltsames Brüderlein, das auf nur zwei Läufen springt.“
Eine himmelblaue Glockenblume trug das kleine Reh im Maul, wolllte sie schon fressen, besann sich jedoch und trug sie zum Kastanienhut: „Oh, danke, kleines Rehlein,“ freute sich der Kastanienhut. „Die blaue Glockenblume schenke ich gleich meiner Mutti.“ Hoch hielt er das Geschenk über sein schwarzes Haar, drehte sich um und wollte schnell zurück zum Pilzhang laufen.
Da zog ihn sanft eine kräftige Hand an der Glockenblume nach vorn: „Guten Morgen, Samuel. Aufstehen. Heute ist doch Heiligabend. Wir wollen gleich am Vormittag den Tannenbaum schmücken.“
Kastanienhut blickte seinem Vater in die Augen und flüsterte verträumt: „Und ich werde Mutti die blaue Glockenblume vom Rehlein schenken.“
Allen meinen Freundinnen, Freunden, Bekannten und Besuchern meines Blogs wünsche ich ein frohes und gesundes Weihnachtsfest!