Die Alte mit dem schwarzen Hut
Als ich von den Kinderjahren in das Jugendalter wechselte und mein Interesse für spannende Bücher erwachte, entdeckte ich in einem späten Herbstmonat Gruselgeschichten von Edgar Allan Poe. Bein Stöbern in den Bücherkisten meines Vaters auf dem Dachboden hatte ich sie eines Nachmittags gefunden. Weshalb Vater ausgerechnet Edgar Allan Poe in die Kisten alter Lektüre gelegt hatte, ist mir noch heute ein Rätsel.
Ich nahm die Sammlung seiner schönsten Gruselgeschichten mit nach unten in mein Zimmer, das im rechten Flügel des Hauses lag, weitab vom Schlafzimmer meiner Eltern. Schmal war der Raum mit einem hohen Fenster, von dem aus ich an jenen dunklen Tagen auf den von Wind und Wetter gepeitschten See blicken konnte.
Etwas schräg gestellt zum Fenster befand sich mein dunkelgrünes Sofa, auf dem ich abends vor dem Schlafengehen mein Bett zurecht machte. Ein kleiner Nachttisch stand zur Seite, allerdings ohne Leselampe. Das störte mich aber wenig, denn der große Deckenleuchter spendete genügend Licht.
So nahm ich mir eines Abends das geheimnisvolle Buch vor, an dessen genauen Titel ich mich heute nicht mehr erinnere, weil ich es wohl verborgt und nie wiederbekommen habe. Es sollte mir Eingang in die amerikanische Romantik gewähren. Ich begann mit dem „Untergang des Hauses Usher“, las an den folgenden Abenden den „Goldkäfer“, den „Doppelmord in der Rue Morgue“ und gelangte schließlich auf die phantastische Geschichte über den Toten unter den Dielen des Fußbodens.
Die Story ließ mich nicht mehr los. Ich erschauerte bei dem Gedanken, ich selbst würde über diesen ächzenden und knarrenden Dielen liegen. Eben solche Holzdielen hatte nämlich auch mein Zimmer, und geöffnet hatte sie mein Vater wegen einer Ausbesserung noch nie.
Allerlei phantastische Gedanken geisterten durch meinen Kopf. Ängstlich aber zugleich müde sank ich in den Schlaf.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, als schlüge ich die Augen auf. Ich starrte an das Fußende meines Bettes. Eins tiefschwarz gekleidete alte Frau, in sich zusammengesunken, saß genau dort. Von fahlem Weiß ihr Anlitz, kaum zu erkennen, schaute es nicht auf mich sondern in die Leere des halbdunklen Raumes, der im matten Mondlicht lag. Mir war, als läge ich so eine Ewigkeit, unfähig, mich zu rühren. Mein Blick hob sich über die schaurige Gestalt zur Wand empor. „Oh“, schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf, „da oben ist der Lichtschalter!“
Mit einem Ruck schnellte ich hoch und drückte auf den Knopf. Nun wurde mir bewusst: Ich hatte einen Alp, einen schrecklichen Wachtraum.
Gleich darauf nahm ich Kopfkissen und Zudecke und schlich mich in das Wohnzimmer auf die Couch auf der anderen Seite des Korridors.
Frühmorgens erzählte ich mein nächtliches Erlebnis beim Frühstück.
Edgar Allan Poe aber habe ich für lange Zeit in mein Bücherregal gestellt.