Die Kornmuhme
Als nach entbehrungsreicher Zeit in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre die Äcker um Lychen wieder grünten, und die Bauern gute Ernten einfuhren, waren die Neuländer oberhalb des Stadtsees hinter dem Bahndamm in viele Felder aufgeteilt, auf denen vor allem Kartoffeln und Roggen gediehen.
Schön war es, auf den Wegen entlang zu wandern und bei warmem Wind auf das wogende Ährenmeer zu schauen.
Am Rain und auf Brachflächen hatten sich würzige Kräuter angesiedelt, die Hasen, Schafen und Ziegen schmackhaftes Futter boten.
So zog es meine Großmutter, von uns einfach Mutter genannt, immer wieder zum Futterschneiden dorthin.
Wie wir aus anderen Begebenheiten wissen, nahm sie mich als kleinen Jungen vor meiner Schulzeit im alten Kindersportwagen mit, in dem sie den mit Gräsern und Kräutern prall gefüllten Sack mit mir obendrauf zur Mittagszeit wieder nach Hause brachte.
Mag es Ende Juni gewesen sein? Ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls stand der Roggen sehr gut. Auf langen, grünen Halmen blühten die Ähren. Sanfter Sommerwind wehte den Blütenstaub durch das Kornmeer und sorgte für reiche Befruchtung.
Mutter stellte den Wagen am Wegesrand ab, band sich die Schürze wie immer so geschickt um, dass diese wie ein weiter Beutel vor ihr hing, in den sie Schritt für Schritt das geschnittene Kraut tat.
Ich hatte mich indessen aufgemacht zu den blauen Kornblumen und dem leuchtenden Feldrittersporn im Roggen. Mutter aber ruft mich zurück und beginnt mit mahnender Stimme: "Gib acht, dass Du nicht in den hohen Roggen hineinläufst, denn das ist sehr gefährlich. Im Roggenfeld lebt die Kornmuhme. Sie lockt Dich mit bezaubernden Worten und Gesang immer tiefer in das Feld hinein. Du findest nimmermehr heraus und bleibst von der Kornmuhme gefangen."
Im ersten Augenblick war ich sprachlos. Fasste mich aber wieder schnell und wollte es nun genauer wissen: "Mutter, wie sieht denn die Kornmuhme aus?" Ich wartete gespannt.
Mutter war auch diesmal mit der Antwort nicht verlegen: "Es ist eine grüne Frau. alles an ihr ist so grün wie die Roggenhalme. Nur ihr Haar ist gelb wie die Roggenblüten. Du kannst sie kaum erkennen. Eigentlich nur an ihren leuchtend roten Augen, die Du - nichtsahnend - für aufbrechende Mohnknospen hältst. Lang sind ihre grünen Finger mit denen sie Dich lockt, wenn sie mit leiser Stimme ihre wunderschönen, betörenden Lieder singt."
Ich hörte Mutter wie gebannt zu. "Also, bleib' schön am Rand und schau' nicht so tief in den Roggen hinein," mahnte sie mich ein zweites Mal.
Zögernd, etwas ängstlich aber zugleich neugierig kehrte ich zum Roggen zurück, um mir Kornblumen in kräftigstem Blau zu pflücken. Unwillkürlich blickte ich doch zwischen die Halme hindurch, so weit mein Auge reichte. Ich hockte mich hin, ging auf die Knie und krabbelte mit Händen und Knien weiter in das Korn hinein.
Plötzlich packte sie mich am Kragen! Mutter war es. Sie zog mich mit strengem Blick zurück. "Auch wenn Du die Kornmuhme nicht siehst und sie Dich nicht ruft, darfst Du niemals in ein Kornfeld gehen und Halme mit Ähren zertreten, denn aus jedem Korn wird Mehl gemahlen. Und aus Mehl backt der Bäcker unser Brot."
Ich habe die Kornmuhme weder gesehen noch gehört. Aber ich kann sie nicht vergessen.