Eine Lychener Köpenickiade
Das Städtchen Lychen hatte in den 60er Jahren zu DDR-Zeiten so etwas ähnliches erlebt, wie die Geschichte vom "Hauptmann von Köpenick". Dass sich das merkwürdige Ereignis wirklich zugetragen hat, bezeugen alteingesessene Stammtischteilnehmer.
"Der Hauptmann vom Marx-Engels-Platz"
Eines Tages hupt eine große schwarze Limosine vom Typ "Wolga" laut auf dem Marktplatz und hält vor dem Rathaus. Die schwere Tür des ehrwürdigen Gebäudes passiert ein elegant gekleideter Herr mit Aktentasche und dem Parteiabzeichen, dem "Bonbon" am Revers. Zur Pförtnerin sagt er kurz: "Melden Sie mich bitte dem Bürgermeister! Ich komme vom Staatsrat der DDR aus Berlin." Schnell verbreitet sich die Nachricht, ein führender Genosse, Mitarbeiter von Walter Ulbricht, sei ins Rathaus gekommen. Diensteifrig erscheint der Bürgermeister und vernimmt die überaus wichtige Nachricht: "Dem Staatsrat und Genossen Walter Ulbricht persönlich ist zu Ohren gekommen, dass alte verdiente Kommunisten, Genossen der Kampfzeit, vielerorts nicht genügend geachtet werden. Mein Auftrag lautet: Der Staatsrat organisiert in allen Gemeinden Kundgebungen, in denen diese Kämpfer ausgezeichnet und materiell beschenkt werden. Die Ehrung hat in Zusammenarbeit mit Partei und FDJ zu erfolgen. Materieller Träger sind die jeweiligen Räte der Städte und Gemeinden!"
Im Lychener Rathaus brodelt es. Der Dezernent für Sozialwesen stellt Listen zusammen, die FDJ mobilisiert ihre Jugendchöre. Die Stadtgärtnerei erhält einen großen Kranzauftrag. Der Bürgermeister bedankt sich beim hohen Gast: "Genosse! Für Lychen ist Ihr Besuch eine große Ehre. Würden Sie die Grüße des Genossen Ulbricht und die anerkennenden Worte für die Veteranen der Partei nicht am besten in einer außerordentlichen Stadtverordnetenversammlung öffentlich vortragen?"
Der junge Berliner Genosse nickt zustimmend: "Ja, einverstanden. Und alle diese verdienten Kämpfer laden Sie bitte noch zum heutigen Abend ein. Ein Bankett des Staatsrates soll gegeben werden für diese Besten der Republik im Kurhotel Hohenlychen. Morgen früh dann die Kranzniederlegung vor dem Ehrenmal der sowjetischen Soldaten, verbunden mit der Überreichung der Auszeichnungen und Geschenke."
Schon während der außerordentlichen Stadtverordnetenversammlung schickt die Stadtgärtnerei ein Dutzend Kränze ins Rathaus.
Abends geht es im Kurhotel Hohenlychen hoch her: Der Gesandte Walter Ulbrichts verkündet: "Das Teuerste ist für unsere alten Kämpfer und Genossen der Garde Thälmanns und Ulbrichts gut genug! Fahren Sie Sekt auf! Rechnen Sie nicht mit einer Flasche! Und dass dann ein anständiges Abendbrot auf den Tisch kommt - das Beste, was Küche und Keller hergeben für Walter Ulbrichts Gäste!"
Am nächsten Morgen erschallen die Fanfaren der FDJ. Der Pionierchor singt das Spanienlied. Aus der Rathaustür treten der Bürgereister und die Ratsmiglieder und tragen die Kränze mit ernster Miene vor sich her. Nur einer fehlt - der Genosse aus Berlin! Der Bürgermeister schickt eine Abordnung ins Kurhotel. Doch von dort kommt schon der Objektleiter persönlich: "Wo ist der Genosse vom Staatsrat? Oder sind Sie, Genosse Bürgermeister, für das gestrige Bankett zuständig?" Dabei hält er die Rechnung in der Hand. "Da ist nämlich etwas passiert, was mich befremdet", meint zögernd der Hotelier. "Soeben kam ein Anruf aus Gransee. Dort hat ein Genosse vom Staatsrat vorgestern ein Bankett gegeben, leider aber vergessen, den Scheck zur Bezahlung der 2300 Mark dazulassen. wissen Sie nicht,wo sich der Genosse jetzt befindet?"
Die Lieder der Jungen Pioniere und der FDJ verklangen, keine Rede wurde vor dem Denkmal gehalten, und die Kränze wurden in die Stadtgärtnerei zurück geschickt.
Wenige Tage später fuhren Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit aus der Bezirksstadt an und begannen mit den Ermittlungen. Der hochrangige Genosse aber blieb vorerst unauffindbar. Wo und wann er geschnappt wurde, ist nicht bekannt. Die Volkspolizei ließ in Lychen die Order verbreiten, dass über die peinliche Geschichte weder gesprochen noch geschrieben werden dürfe. Aber ganz Lychen lacht noch heute über den "Hauptmann vom Marx-Engels-Platz".
(frei nach einem späteren Zeitungsbericht von Arno Hahnert)