Erinnerungen am Muttertag
Denke ich zurück an meine Kinderjahre, so war Mutter immer für die Familie da, vor allem für uns zwei Jungen. Sie sorgte dafür, dass jederzeit Essen und Trinken für alle da war. Sie kleidete uns sauber, schickte mich regelmäßig zum Haareschneiden. Bei meinem zehn Jahre älteren Bruder brauchte sie das nicht mehr. Der ging von selbst dorthin. Mir half sie beim Schreiben der Niederschriften in den unteren Klassen und beim Rechnen, bis sie merkte, dass ich meine Aufgaben allein zu lösen vermochte. Zusammen mit Großmutter bestellte sie den Garten, fütterte die Hühner, Enten und Kaninchen, machte aus der Ziegenmilch Butter, die ich nicht gerne aß. Kurzum, sie tat alles, damit es uns gut ging. Das Geld verdiente der Papa.
War ich traurig, nahm sie mich in den Arm, war ich frech. holte sie den Teppichklopfer hervor. Es kam aber zu nichts Argem, denn ich rannte schnell aus der Stube nach draußen und versteckte mich. So hatten wir unsere Mutter lieb, ohne viel Worte zu verlieren.
Einmal aber, da spürte ich, wie sehr sie mir fehlte. Ich war neun Jahre alt, etwas schmächtig und in den Frühjahrsmonaten, bevor die Sonne kräftig schien, immer viel zu blass. Das stellte unsere Gemeindeschwester, Frau Umlauf, fest. Sie unterhielt sich mit meiner Mutter, und gab ihr den Rat, mich verschicken zu lassen. Mutter war einverstanden.
In den großen Ferien im Sommer brachte sie mich zum Bahnhof Hohenlychen, gab mir einen Kuss zum Abschied, und ich stieg in unsere Kleinbahn, die noch von einer Dampflok gezogen wurde. Ab ging die Reise ins Zittauer Gebirge, nach Oybin. Ich war vorher noch nie im Gebirge. Deshalb drückte ich mir die Nase am Waggonfenster platt, als die ersten Sandsteinfelsen vor meinen Augen vorüber zogen. Ach, wie war ich da aufgeregt. Es dauerte nicht lange bis wir in Oybin ankamen. Betreuerinnen des Kinderheimes holten uns mit einem Pferdewagen ab. Den Berg gings hinauf zum Heim. Drei Wochen lang sollte das hier mein Zuhause sein. Abends im Bett dachte ich an Lychen zurück, aber nicht lange, denn wir lagen zu Viert auf dem Zimmer. einer erzählte immer mehr als der andere, bis uns der Schlaf in seine Arme nahm. Schön waren die Tage. Wir gingen auf Wanderungen zu bizarren Felsen. Ich erinnere mich z. B. an die "Glucke". Der Sandstein hatte wirklich die Form einer gluckenden Henne. Fast zum Schluss der drei Wochen näherte sich ein kultureller Höhepunkt. Wir hatten unter Anleitung Lieder und Gedichte einstudiert. Auf einer Veranstaltung im Altenheim sollten wir ein Heimatprogramm für die älteren Herrschaften aufführen. Ich war gut im Rezitieren und trug zur Sommerzeit ein Wintergedicht in Zittauer Mundart vor und das fing so an: Wenn's um de Zeit im Winter kimmt, wo pe a pe de Tog zunimmt, und 's gonze Haus nach Leinöl reucht, doa ziehn durchs Durf de Madels, Jungen, doa werd geschrien, gebrillt, gesungen... Ich erhielt Applaus. Nur im Chor mitsingen, durfte ich nicht, weil ich angeblich den Ton nicht traf.
So war die Kinderkur der Sozialversicherung für mich das erste große Erlebnis außerhalb von zu Hause. Der Tag der Abreise und der Heimkehr kam heran. Wir stiegen wieder in den Zug der Deutschen Reichsbahn, so hieß die nämlich immer noch in der DDR, und fuhren in Richtung Norden in die Heimat.
Es muss so gegen Zwei Uhr nachmittags gewesen sein, als die fauchende Lok wieder in den Bahnhof Hohenlychen einfuhr. Die kleine, grüne Bahn hielt. Wir stiegen aus und standen auf dem Bahnsteig. Die Väter und Mütter meiner Freunde warteten schon, um ihre Jungen und Mädchen abzuholen. Groß war die Freude und das Glück.
Ich aber stand einsam und verlassen da und schaute um mich: "Mama ist nicht hier." Unschlüssig blieb ich stehen, wärend die anderen nach Hause zogen.
Ich sahr auf die lange Chaussee, die vom Bahnhof hinunter in die Stadt führt. Da sehe ich doch meine Mutter, wie sie - so schnell sie konnte - angelaufen kam und mich atemlos in ihre Arme nahm.
Da war sie wieder bei mir, meine Mama, und ich bei ihr.