Kirchgang bei Nacht

Veröffentlicht auf von anais

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In der Uckermark kriegen es die Junggesellen und Jungfern, wenn sie über 47 Jahre alt sind, recht schlecht. Sie sind um ihr Amt wirklich nicht zu beneiden. Die Jungfern müssen hin aufs Kröchlendorffer Feld und da auf dem Hundeberg fünfundzwanzig Jahre lang mit der Nähnadel graben. Die Junggesellen aber müssen nach ihrem 47. Jahr fünfundzwanzig Jahre lang Krebse nach Jerusalem treiben, oder sie müssen hin zum Passowschen Eisenbruch und dort fünfundzwanzig Jahre lang Stubben roden.

War einst eine alte Jungfer von 76 Jahren; sie war schon ganz raus aus der Klasse, die noch mit der Nähnadel graben musste. Sie konnte nachts oft nicht so recht schlafen, und wenn sie schlief, so hatte sie im Schlaf immer einen so schweren Traum, dass sie öfters im Schlaf umherlief und in ihrer Wirtschaft herumkramte.

Einst träumte dem alten Mädchen in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag, dass sie ihr Sonntagszeug anzog und zur Kirche ging. Sie steht dabei aber auch wirklich auf, zieht sich sonntäglich an und geht hin zur Kirche. Es war gerade um Mitternacht. Als sie bei der Kirche ankam, stand die Kirchentür auf, und die Kirche war recht hell erleuchtet. Sie ging hinein, setzte sich in einen Kirchenstuhl und sang recht andächtig mit. Dabei aber wachte sie auf und hörte nichts mehr von einem Gesang. Als sie wieder ganz zu sich selber kam und in die Höhe guckte, bekam sie viele Leute zu sehen, die nicht mehr auf dem Erdboden lebten. Da saßen Leute in den Kirchenstühlen, die schon vor Jahr und Tag gestorben waren. Sie sah ihren Vater und ihre Mutter, ihre Brüder und ihre Schwestern, ihre Nachbarn, ihre Mitkonfirmanden und Schulkameraden. Sie sah auch den vorigen Pastor, der schon lange in der Erde verwest war. Ja, was noch wunderlicher war, der Pastor stand auf der Kanzel und predigte; er handschlagte dabei so, als wenn er lebendigen Leuten predigte. Sie aber konnte auch nicht ein bisschen davon hören, von der Predigt sowohl wie vom Gesang. Als der Pastor den Segen sprach, was sie an den Bewegungen seiner Hände sah, und dass dabei alle Leute aufstanden, kam eine Frau zu ihr heran (die vor sechzehn Jahren, als sie starb, ihre beste Freundin war) und flüsterte ihr ins Ohr: "Nun geh' hinaus!" Gleich stand sie auf und verließ die Kirche; die anderen Leute sangen noch einen Vers, wovon sie aber nichts hören konnte. Als sie eben mit ihrem letzten Fuß aus der Kirchtür schritt, schnappte die Tür ein, und ihr Kleid wurde in die Tür geklemmt. In ihrer Angst riss sie, was sie reißen konnte und riss sich dabei den halben Rock hinten ab.

Am anderen Tag, als der Küster sehr zeitig hinging, um zur Predigt zu läuten, fand er den Flicken nicht in der Tür. Aber auf jedem Grab lag ein Stück vom abgerissenen Rock. Die Alte wurde von der Angst sehr krank und starb ein paar Tage nach diesem grausigen Kirchgang.

( Quelle: Eberhard Kaulich, "Queerbeet", Lychener Sagen und Prosa, Sammlung Teil II, erschienen im Eigenverlag, 2004)

Veröffentlicht in Lychener Stammtisch-Geschichten

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C
<br /> <br /> Tut mir leid das meine Gruselgeschichte so normal geendet hat! ;-)<br /> <br /> <br /> Ich war dann allerdings froh darüber, denn ich dachte schon das ich übergeschnappt wäre.<br /> <br /> <br /> <br />
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A
<br /> <br /> Hallo Cebulon! Sei froh, dass es harmlose, junge Rehe waren! Wer weiß bei Deinen Streifzügen durch die Natur? Vielleicht kommt der Waldgeist einmal unverhofft! Lach!<br /> <br /> <br /> Liebe Grüße<br /> <br /> <br /> Joachim<br /> <br /> <br /> <br />
C
<br /> <br /> Mir gruselt so leicht vor nichts! Ist auch besser, denn sonst könnte ich mich ja noch nicht mal rasieren! ;-)<br /> <br /> <br /> Obwohl: Eines Tages mal, verließ ich das Haus um zur Frühschicht zu fahren. Es war noch ziemlich dunkel, als ich um die Hausecke bog, und jäh und unverhofft vor mir drei Gestalten sah.  Sie<br /> reichten mir von der Größe her etwa bis zum Bauch und hatten oben drauf einen kleinen weißen "Busch": Diese Gestalten hüpften vor mir auf und nieder und bogen sich dabei merkwürdig hin und her.<br /> Mir standen sämtliche Haare zu Berge, ich war völlig fassungslos und konnte einfach nicht glauben was ich da sah. Mein Puls war jenseits von Gut und Böse. Wurden hier Märchen und Mythen wahr?<br /> Zwerge, Kobolde oder was auch immer in unserem Garten?<br /> <br /> <br /> Aber dann passten sich meine Augen immer mehr an, und aus der Dunkeleheit schälten sich die Umrisse von...  ...drei flüchtenden Rehen, die in Mutters Vorgarten ihr Frühstück eingenommen<br /> hatten.<br /> <br /> <br /> <br />
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A
<br /> <br /> Hallo Cebulon! Über Dein Erlebnis mit den Zwergen und Kobolden, alias Rehe, hast Du eine hübsche, ein bischen gruselige, kleine Geschichte geschrieben. Ich dachte wunder, was da kommt. Aber so<br /> sind die Gruselgeschichten. Am Ende sind sie wieder tatsächlich. Vielen Dank für die Prosa!<br /> <br /> <br /> Liebe Grüße<br /> <br /> <br /> Joachim<br /> <br /> <br /> <br />
X
<br /> <br /> Hey Joachim,<br /> <br /> <br /> oh jesses, da müssen ja alle Alleinstehenden schnellstens aus der Uckermark fliehen, bevor sie solche schrägen Aufgaben bekommen! Kein Wunder, dass die alte Dame Alpträume hatte und<br /> schlafgewandelt ist. Das ist sicher eine Folge vom Graben mit der Nähnadel gewesen. <br /> <br /> <br /> Liebe Grüße, Xammi<br /> <br /> <br />  <br /> <br /> <br /> <br />
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A
<br /> <br /> Hallo Xammi! Zum Glück stammt diese Sage nicht aus unserer unmittelbaren Umgebung. Dieser Ort liegt ca. 30 km entfernt von Lychen, schon in der Nähe von Prenzlau. Ich werde demnächst auch graben<br /> müssen. Muss mal sehen, ob ich eine alte Dame finde, die mir mit der Nähnadel hilft. Lach!<br /> <br /> <br /> Liebe Grüße<br /> <br /> <br /> Joachim<br /> <br /> <br /> <br />
C
<br /> <br /> Sehr gruselig, ich werde versuchen beim Einschlafen daran zu denken! ;-)<br /> <br /> <br /> <br />
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A
<br /> <br /> Hallo Cebulon! Ich hoffe, dass Du nicht davon geträumt hast! Mir kann das nicht passieren, denn ich gehe höchstens mal am Tage in die Kirche. In einer Mitternachtsmesse war ich noch nie. Könnte<br /> ich ja mal machen am Silvesterabend.<br /> <br /> <br /> Liebe Grüße<br /> <br /> <br /> Joachim<br /> <br /> <br /> <br />
K
<br /> <br /> Hallo Joachim, mir geht es ähnlich. Ich habe auch genug zu tun und darum wird es meistens spät bei mir. Mit dem Schlafen habe ich keine Probleme, dazu bin ich meistens viel zu müde und brauche<br /> nicht mal Schäfchen zählen.<br /> <br /> <br /> Liebe Grüße, Katharina<br /> <br /> <br /> <br />
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A
<br /> <br /> Hallo Katharina! Sei froh, dass Du gut schlafen kannst! Ich wache nachts öfter mal auf und liege dann eine ganze Weile wach. Aber ich mache mir nichts daraus, weil ich ja ruhe. Lach!<br /> <br /> <br /> Liebe Grüße<br /> <br /> <br /> Joachim<br /> <br /> <br /> <br />
K
<br /> <br /> Hallo Joachim, das aber aber eine gruselige Geschichte! Aber auch recht interessant! Zumindest habe ich ich sie mit Spannung gelesen. Einerseits mag ich so etwas anderseits ... na ja, kommt auf<br /> die Uhrzeit an, wann ich es lese. <br /> <br /> <br /> Du hast das toll geschrieben!<br /> <br /> <br /> Liebe Grüße, Katharina<br /> <br /> <br /> <br />
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A
<br /> <br /> Hallo Katharina! Ich weiß, du hast die Geschichte, wie meistens, kurz nach der Geisterstunde gelesen. Hoffentlich konntest Du danach gut schlafen!! Wenn bei den Geschichten eine Quellenangabe<br /> druntersteht, sind sie nicht von mir geschrieben. Habe zur Zeit zum Schreiben nicht so die rechte Muße wegen der Arbeit draußen. Und abends bin ich ziemlich k. o.<br /> <br /> <br /> Liebe Grüße<br /> <br /> <br /> joachim<br /> <br /> <br /> <br />