"Kohlenklau"

Veröffentlicht auf von anais

Stammtischglocke-002.jpgSo schneereich wie in diesem Jahr waren die Winter in der Nachkriegszeit nach 1945 allemal. Dazu waren sie noch bitterkalt. Die Leute froren und hatten kaum etwas zum Heizen. Größere Betriebe erhielten Braunkohlelieferungen, die auf freien Plätzen abgeladen wurden. So auch das Lazarett der Roten Armee in den ehemaligen Heilstätten Hohenlychen. Der Vorplatz am Bahnhof wurde Kohleplatz. Die russischen Soldaten schippten die Kohle von den Waggons auf ein Förderband, und bald türmte sich ein Kohleberg auf. Pfiffige Lychener klauten sich nachts davon einige Eimer voll, und am Morgen rauchten die Schornsteine auf den anliegenden Häusern. Zu dem Lychener Günter Linke, der als deutscher Zivilangestellter das Heizhaus leitete, sagte dann morgens der russische Wirtschaftsoffizier mit Blick auf die Zehdenicker Straße: "Schau mal da! Alles meine Kohle!" Kohle klauen war strengstens verboten. Regelmäßig erschien in der Lokalpresse die warnende Karrikatur eines Männchens mit großen, tiefschwarzen Augen, "Kohlenklau", und die Leser wurden damit zur Wachsamkeit aufgerufen. So hatten Frauen mit großen schwarzen Augen im Ort bald den Spitznamen "Kohlenklau". Die frierenden Lychener kümmerten sich wenig darum. Auch deutsche Arbeiter aus dem Militärobjekt schleppten bisweilen eine kleine Ladung nach Hause. Richard Nehls z. B. nahm sich öfters einen Rucksack voll Kohlen mit. "Aber einmal", so erzählte Günter Linke, haben wir ihm aus Schabernack Steine reingelegt." Die Russen hatten selten jemanden erwischt. Wahrscheinlich hatten sie es darauf auch nicht abgesehen. Sie waren auch zum Tausch bereit. Hans Grätz aus der früheren Lychener Gärtnerei erinnerte sich, dass die Russen eines Abends für das Gewächshaus Kohlebriketts für das Gewächshaus anfuhren. Um 23.00 Uhr traf der Lkw ein, und der Fahrer rief: "Kamerad! Kohle! Schnell, schnell!" Und Hans Grätz erwiderte: "Ja, kommt mal noch mal! Morgen bekommt Ihr dafür Gurken."
So wusch eine Hand die andere. Jedes Jahr holten sich die Russen im Herbst Kartoffeln von der LPG Beenz. Und im Ausbau Giese bei Mechow borgten sie sich aus der kinderreichen Familie Wegner den Ganter aus. Denn - die Russen hielten im Objekt auch Gänse, hatten aber keinen Ganter. Von Wegners Ganter ließen sie ihre Gänse treten.
Das Lazarett der Roten Armee war lange Zeit ein wichtiger Arbeitgeber für die Lychener. Und so haben einige diese Zeit nicht einmal in schlechter Erinnerung.

Veröffentlicht in Lychener Stammtisch-Geschichten

Um über die neuesten Artikel informiert zu werden, abonnieren:
Kommentiere diesen Post