Mein erstes Krebsessen
Vor mehr als 50 Jahren waren die Lychener Gewässer noch rein, und wir konnten durch das klare Wasser bis auf ihren Grund schauen. Bei sonnigem Sommerwetter spiegelte sich das lichte Blau des Himmels auf der Oberfläche der Seen. Motorboote durchpflügten sie nicht. Weder Plaste noch Flaschen oder anderer Unrat der heutigen Konsumgesellschaft verschmutzte das Wasser. Das war in der Nachkriegszeit, als es noch an Überfluss fehlte und die menschlichen Lebensgewohnheiten der Natur angepasst waren.
So lebte damals in den sauberen Gewässern allerhand Getier, das heute kaum noch zu entdecken ist. Buntfarbige Stichlinge, kleine Barsche oder springende Ükeleis waren überall zu sehen. Wir brauchten kein Aquarium. Flussmuscheln bildeten ganze Kolonien auf sandigem Grund.
Oft warfen wir Jungen die selbst gebauten Angeln aus und fingen so manchen Blei, der abends bei Mutter in der Pfanne landete.
Eines schönen Nachmittags, zur Zeit der großen Ferien, kamen wir auf die Idee, Flusskrebse zu fangen. Nahe am Ufer saßen sie unter Steinen im seichten Wasser. Besonders Mutige fingen sie mit der Hand über den gepanzerten Rücken. Wir aber machten uns lieber Fangstöcke zurecht. Dazu wurde ein frischer, saftiger Stock an seinem unteren Ende ca. 10 cm eingeschnitten und ein kleines Querholz eingelegt. Mit diesem Stock stachen wir blitzschnell über den Rücken des Krebses ein, und schon hatten wir ihn – wenn er uns nicht dennoch entwischte.
Wir krebsten an jenem Nachmittag am Ufer unserer Nachbarin Alma Töpke. Enkel Wolfgang verbrachte seine Ferien bei ihr, und wir Zwei waren enge Freunde. Ein Mädchen aus Berlin wollte das Krebsen mit uns gemeinsam versuchen. „Wenn wir genug Große gefangen haben,“ meinte Wolfgang zu uns, „werden wir sie meiner Oma zum Kochen geben. Das wird ein feines Krebsessen auf dem Hof!“
Ich hatte noch nie Krebse gegessen, und – ehrlich gesagt – ich mochte sie nicht so sehr, weil mich einmal einer beim Baden in die Zehe gezwickt hatte. Probieren aber wollte ich sie dennoch.
So fingen wir einen halben Eimer voll und brachten ihn am frühen Abend zu Oma Töpke in die Küche. Sogleich setzte sie einen großen, eisernen Kochtopf auf den Feuerherd, schüttete die Krebse hinein und füllte fast bis zum Rand Wasser auf. Wir indessen warteten gespannt auf dem Hof.
„Knallrot müssen sie beim Kochen werden“, erklärte uns Wolfgang. „Dann sind sie gar, und wir können die Schwänze mit einem schnellen Ruck herausziehen und das leckere Fleisch darin essen. Auch die großen Scheren sollten wir knacken. Deren Fleisch soll besonders gut schmecken!“
Allzu lange dauerte es nicht, und Oma Töpke kam mit einer großen Steingutschüssel voller feuerroter Krebse zu uns an den Tisch. „Na, dann wollen wir mal sehen,“ sagte sie nur kurz und stellte die Schüssel mitten auf den alten Holztisch.
Zaghaft ergriff ich den ersten Krebs, beguckte ihn noch einmal von allen Seiten, bis ich mich entschloss, schnell den Schwanz herauszuziehen. Zugleich beobachtete ich mit einem Auge die anderen, die alle mit ihren Krebsen beschäftigt waren.
Aha! Wolfgang pellte die Schale vom Schwanz ab. Ich machte es genau so und schaute mir den Leckerbissen an: Gallertartig und durchsichtig schimmerte er. Fast zur gleichen Zeit steckten wir die Bissen in den Mund. Ich biss drauf, kaute kurz und spuckte alles wieder in hohem Bogen aus. „Iii“, rief ich, „das schmeckt ja widerlich!“ Die anderen verzogen genau so wie ich ihre Gesichter.
Fragend und ein wenig vorwurfsvoll schauten wir Oma Töpke an. „Ach“, kam es ganz kleinlaut aus ihr heraus, „Die sind ja noch ganz roh! Ich habe sie wohl nicht lange genug gekocht.“ Sie nahm die Schüssel, und – schwupps – warf sie all' dier roten Krebse auf den Misthaufen.
Ich meinte nur: „Wisst Ihr, woran ich denken musste? An helle Götterspeise. Die sieht genau so aus.“ Alle lachten.
Ich aber habe seither keine Krebse mehr gegessen. Und Mutter durfte mir lange Zeit keine Götterspeise auf den Tisch stellen.