Mit der Stange gerettet
Als Kinder kletterten wir auf unseren Streifzügen gerne an steilen Hängen herum, balancierten auf schmalen Balken, um unser Geschick und unseren Mut zu beweisen. So erinnere ich mich an ein Ereignis, dass mich fast mein Leben gekostet hatte.
Ende der 1940er Jahre - ich ging noch nicht zur Schule - traf ich mich nachmittags im kalten Februar mit meinen Spielgefährten Elke und Peter Bahr. Wir wollten zur alten Villa Jonas laufen, um dort in dem davor liegenden strauchigen Gelände, dicht am Ufer des Großen Lychensees Entdeckungen zu machen.
Also zogen wir los: am Stadtsee vorbei, über die Hohestegbrücke bis unter die Eisenbahnbrücke. Dort blieben wir- wie immer- stehen und schauten vom geländerlosen Uferweg in das Wasser, das die beiden Seen verbindet. Fast bis auf den Grund konnten wir blicken und sahen die großen Gesteinsbrocken dort unten schimmern.
Noch vor Kriegsende hatten fanatische Nazis die sehr schön im Bogen geschwungene, gelbe Klinkerbrücke gesprengt, um den Russen den Weg zu versperren. Der Wasserweg war noch nicht geräumt und frei für die Schifffahrt. So lag das Gestein in der Durchfahrt.
Allerdings verkehrte bereits wieder die Eisenbahn auf dieser Strecke von Fürstenberg/ Havel über Lychen und Hohenlychen nach Templin und Eberswalde. Dazu hatte man provisorisch schwere Eisenträger von Brückenpfeiler zu Brückenpfeiler und darüber das Gleis gelegt. Im Schneckentempo zog die Dampflok die Wagen hinüber. Besonders langsam fuhren die langen Güterzüge.
In der damals unsicheren Zeit - aus Furcht vor Sabotage durch "Feinde des Sozialismus"- hatten an solchen Verkehrspunkten Brückenwächter ihren Dienst zu tun. Unser Brückenwächter hatte eigens dafür ein Holzhäuschen zum Schutz gegen die Witterung am Fuße der Brücke zu stehen.
Als wir hinüberschauten, war er gerade nicht da. Und so liebäugelten wir mit dem schon etwas angefaulten Vierkantholz, welches das Bollwerk unter unserem Gehweg hielt. "Los! Lasst uns mal hier drüber langlaufen! Mal sehen, wer's schafft", rief ich den Beiden zu. Kalt war mir nicht, denn ich hatte einen dunkelgrünen Lodenmantel mit Kapuze an.
Als Anstifter machte ich gleich den Anfang in meinen hohen Winterschuhen. Obwohl ich merkte, dass der bemooste Balken glitschig war, balancierte ich drauflos. Plötzlich rutschte ich ab und stürzte in das eiskalte Wasser! Ich ging unter, kam mit den Kopf wieder hoch, schnappte nach Luft und versank wieder.
Da fühlte ich einen Gesteinsbrocken, stieß mich hoch, schnappte wieder nach Luft. Der schwere Lodenmantel hatte sich noch nicht voll Wasser gesogen und trieb mich aufwärts. Elke und Peter schrien aus Leibeskräften: "Hilfe, Hilfe! Hier ertrinkt einer!"
Nach einer mir schier unendlichen Zeit kam der Brückenwärter angehastet, denn er hatte wohl gerade seinen Lohn auf dem ziemlich weit entfernten Bahnhof Lychen geholt. Er packte eine lange Stange, kletterte über die Brücke bis auf unsere Seite und hielt sie mir entgegen. In Todesangst packte ich zu.
So rettete mich der beherzte Mann in letzter Minute vor dem Ertrinken. Völlig durchnässt lief ich so schnell es ging mit meinen kleinen Freunden nach Hause, weinte und jammerte in einem fort: "Ach, hätte ich das bloß nicht gemacht!"
Zu Hause steckte mich meine Großmutter sofort ins Bett, denn Mutter war irgendwo unterwegs. Als hätte sie eine Vorahnung gehabt, organisierte sie durch Tausch eine Tafel Schokolade, denn so etwas gab es nicht alle Tage. Sie gab sie mir gleich zum Naschen und packte mich noch wärmer ein. Am nächsten Tag war ich wieder wohlauf, Aber - nach einer Woche bekam ich eine schwere Erkältung.
So hatte mein Schutzengel damals die Gestalt des Brückenwächters angenommen. Welch' Glück im Unglück!