Sirup kochen
In der Nachkriegszeit, nach 1945, fehlte es an Allem. Lebensmittel gab es auf Zuteilung. Das reichte kaum einen Monat. So war auch der Zucker sehr knapp, und die Hausfrauen mussten überlegen, womit sie Speisen und Getränke süßen konnten. In den Lebensmittelgeschäften gab es nur selten Sirup in Gläsern. Wohl aber bauten Bauern auf den Feldern um Lychen Zuckerrüben an. Die Ernte mussten sie für die Verpflichtungen aus dem Soll an die staatlichen Aufkaufbetriebe abliefern. Nachdem die Zuckerrübenfelder im Herbst abgeerntet waren, blieben hin und wieder, hier und dort einige der weißen Rüben liegen, wenn nicht der Bauer gleich an den folgenden Tagen die restlichen Rüben selber aufsammelte.
Die Lychener Hausfrauen, so auch meine Mutter und ihre Freundinnen. nutzten die Herbstzeit zum Zuckerrübenstoppeln. Sie wussten zwar, dass der Bauer sie dabei nicht erwischen durfte, aber aus der Not heraus, wagten sie das Stoppeln doch, denn genau so machten sie es mit Kartoffeln und manchmal auch mit Weizen.
Am späten Nachmittag, wenn sie glaubten, der Bauer wäre nicht mehr auf dem Feld, zogen sie zu Zweit oder zu Dritt mit je einem Sack und dem hölzernen Handwagen los auf die Felder, wo sie wussten, dass dort süße Rüben gestanden haben. Den schweren Handwagen zu ziehen, war schon mühevoll genug. Deshalb wechselten sie sich unterwegs ab, bis sie an den Rand des Feldes gelangten.
Der Wagen wurde hinter ein Gebüsch gestellt. Flott liefen die Frauen mit ihren Körben über den Acker, schauten immer wieder aus, wo die Rüben lagen und – wenn sie Glück hatten, schafften sie mehrere Körbe und füllten damit die Säcke auf dem Wagen. Voll sollten die Säcke schon sein, denn das Sirupkochen musste sich lohnen. Dann zogen sie den vollen Leiterwagen wieder durch sandige Wege und über holpriges Pflaster nach Hause.
Am nächsten Tag wurden die Rüben auf dem Hof gewaschen und anschließend in kleine Stücke geschnitten. Großmutter half mit. Wir Kinder wurden zu dieser lange dauernden Arbeit nicht herangezogen.
Wenn alle Rüben zerkleinert waren, kamen sie in den großen Kessel mit Holzfeuerung in der Waschküche. Jetzt begann erst die wirklich lange Arbeit. Unter ständigem Rühren mit einem langen, stabilen Holzlöffel, mit dem auch die Wäsche zuvor gerührt worden war ( aber wahrscheinlich hatten sie davon mehrere), musste die langsam zerkochende Masse in Bewegung gehalten werden, damit am Boden nichts anbrannte. Das ging dann so bis nach Mitternacht, bis der Sirup dickflüssig und braun war. Erschöpft sanken die Frauen ins Bett, um am nächsten Morgen das kostbare Süß in Gläser abzufüllen und zu verschließen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange der Vorrat reichte. Zum Frühstück gab es jedenfalls immer Sirupstullen. Und heute – ich kann mich nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal Sirup auf dem Frühstücksbrötchen hatte.