Unser Turm brennt!
Der schwülwarme Sommertag legt Gewitterstimmung über Seen und Wälder. Vom Westen her ziehen dunkle Wolken über den Großen Lychensee und ballen sich zu einem drohenden Unwetter zusammen. An diesem Feriennachmittag setzt ich mich gespannt auf den Sims der Hoftreppe, schaue hinauf zum Himmel und über unseren Stadtsee.
Immer näher schieben sich die schweren Wolken an an das Städtchen heran. Blitze zucken, und ich zähle die Sekunden bis zum Donnerschlag, wie ich es von Vater gelernt habe, um die Kilometer zu wissen, wie weit das Gewitter noch entfernt ist. Kürzer werden die Abstände zwischen Blitz und Donner. Diesmal wird es nicht hinter uns vorbeiziehen. Die Gewalten rollen direkt auf die Stadt zu.
Nun setzt sich Vater zu mir und meint: „Das wird ein schweres Unwetter. Hoffentlich kommen wir heil davon! “Ach“, entgegne ich, „wir haben doch die große St.-Johannes-Kirche hinter uns mit ihren Blitzableitern. Uns wird schon nichts passieren.“
Mutter hat bei Gewitter immer Angst und setzt sich hinter die Tür des Esszimmers, um nichts zu sehen. Ab und zu ruft sie: „Kommt bloß rein!“
Vater und ich beobachten das Lichterzucken der Flächenblitze, und bizarre Zickzackblitze schlagen irgendwo in der Ferne in die Erde ein, worauf ein gewaltiger Donner folgt.
Schon zieht das Gewitter über die Neuländer hinter dem Südufer unseres Sees. Plötzlich schießt ein gleißend heller Pfeil fast zeitgleich mit dem Donnerschlag aus den Wolken. „Jetzt hat's aber eingeschlagen,“ kommentiert Vater sofort. Und da sehen wir über den Neuländern eine lodernde Flamme emporschlagen. „In unseren Aussichtsturm hat's eingeschlagen! Der brennt jetzt lichterloh. Da muss ich hin! Peter (mein Freund und Nachbarsohn) muss mitkommen,“ rufe ich und schieße los.
So laufen wir schnell die Vogelgesangstraße lang, über die Schleusenbrücke den Angelberg hoch. Und – wir sind nicht die Einzigen. Selbst der kleine, spindeldürre Waldemar Kietzmann mit seinen krummen Beinchen torkelt den Angelberg hinauf, immer hinter uns her, ächzend und stöhnend: „Nicht so schnell! Nicht so schnell!“ Trotz Protest hält er aber wacker das Tempo mit.
Noch haben wir ein ganzes Stück zu rennen, immer oben die Bredereicher Landstraße entlang bis zur höchsten Stelle auf den Neuländern zum geometrischen Punkt. Holztürme stehen auf diesen Plätzen die zur Landvermessung und der Kontrolle von Waldbränden dienen.
Für uns Jungs ist das unser Aussichtsturm. Eine schmale Holzleiter führt ab dem ersten Absatz nach oben zu einer kleinen Plattform. Vom Erdboden aus müssen wir jedes Mal erst über die Streben zur Holzleiter klettern. Oben haben wir dieherrlichste Aussicht, die man sich denken kann, über alle Seen mit dem alten Lychen und seiner Feldsteinkirche mittendrin.
Und nun steht unser Turm in Flammen! Brennende Holzteile fallen zu Boden. Wir müssen uns vorsehen und trauen uns gar nicht zu weit heran. Hin und her gerissen jammern wir um unseren geliebten Turm und starren zugleich fasziniert und gebannt auf das Feuerwerk.
Es dauert nicht allzu lange, und das Gerüst fällt krachend im Flammenmeer in sich zusammen.
Traurig und fassungslos schleichen wir wieder nach Hause.
Als wir in den folgenden Tagen wieder nachschauen, sehen wir nur noch einen Haufen verkohlter Balken in der grauschwarzen Asche.
Nie wieder wurde an dieser erhabenen Stelle ein neuer Aussichtsturm errichtet. Eigentlich schade!
Dafür haben wir aber eventuell den Aussichtsturm in Zukunft mitten im Stadtsee vor der Nase als „Krönung“ eines überdimensionalen Stadthafens. Über den Yachthafen soll ja wohl – so wird hinter vorgehaltener Hand geflüstert – der Fürst von Monaco die Schirmherrschaft übernehmen, und Lychen erhält wieder einen neuen Beinamen, nämlich „Klein Monaco“. Wenn noch ein Spielkasino dazu kommt, bringt das ordentlich Schotter!!