Vorbotinnen der Emanzipation
Am Ufer des Großen Lychensees lebten in den goldenen 20ern der vorigen Jahrhunderts bis 1945 zwei emanzipierte Damen in der Villa Jonas. Die Damen waren sehr begütert und betrieben eine Landwirtschaft. Fräulein Jonas und Fräulein Reichenau beliebten, mit einer noblen Kutsche durch den Ort zu fahren. Und zum Erstaunen der Lychener Ackerbürger hatten die Damen auch den ersten Pkw. Fräulein Reichenau, vielseitig interessiert, besaß ein Fernrohr, mit dem sie aus der Kuppel der Villa die Konstellation der Sterne beobachtete. Als die Russen einmarschierten, ließen sie von ihrem Hausmeister noch schnell den wertvollen Schmuck vergraben und flohen auf die Insel Rügen. Als sie zurück kamen, fanden sie ihre versteckten Wertsachen geplündert und ihre Ländereien enteignet. Nicht weit von der Villa Jonas entfernt, auf der Halbinsel Kuckuckswerder, hatten sich Böttchers, zwei Schwestern, ein etwas bescheideneres Haus eingerichtet. Sie allerdings verpachteten ihr Land und vermieteten Zimmer an Sommergäste. Und das dritte emanzipierte Paar - die Schwestern Tizius - lebte ebenfalls auf einer Halbinsel weiter südlich am Großen Lychensee, auf Brennickenswerder. Sie beschäftigten sich ebenfalls mit Ackerbau. Und weil das eigentlich Männerarbeit war, genoss es eine der zwei, genüsslich ihre lange Pfeife zu rauchen.
Vielleicht schon Jahre zuvor - wohl Anfangs des 20. Jahrhunderts - wurde Agnes Brennicke als "fortschrittlich" bezeichnet, denn sie war die einzige Frau in Lychen und Umgebung mit Bubikopf! Sie hieß deshalb auch allgemein "Agnes mit den Polkalocken". Oft sah man sie auf der Straße mit einer dicken Zigarre im Mund. Und - auch der Alkohol war ihr nicht fremd. Obwohl sie von ihren Angehörigen unterstützt wurde, lag ihr das Betteln im Blut. Hatte sie bei ihrer Schnurrerei Glück, wurde sie von ihren Gönnern öfter gefragt, was sie lieber haben möchte, ein Stück Brot oder zwei Pfennige. Schlagfertig gab sie stets als Antwort: "Geb'ns mi leber twe Penning. Dat Brot wechselt de Budiker nich gern!"
Und wieder viel später - vor allem in der Nachkriegszeit - hatte "Ella vom Bock" lokale Berühmtheit erlangt. In Hohenlychen hatte sie eine Gaststätte und pflegte als Hobby das Kartenlegen. Ihr kleinerer Mann, von ihr immer "mein Schönerle" genannt, hatte u. a. Säcke verkauft. Deshalb erhielt er von den Lychenern den Spitznamen "Sackbock", so wie die meisten vielen Böcke in unserem Städtchen ihre Beinamen hatten.
"Ella vom Bock" ist mir selber noch in guter Erinnerung, denn bei ihr gab es im Sommer die grüne Waldmeisterlimonade.
So haben also bis auf den heutigen Tag die Lychener Frauen immer ihren Mann gestanden, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise.