Die "Lychener Zeitung" - heute historische Rarität

Anfang des Jahres 1903 wendet sich Buchdrucker Otto Schumann aus Stavenhagen in Mecklenburg an Bürgermeister Martin Bachhuber mit der Anfrage, ob in Lychen Existenzmöglichkeiten für eine Buchdruckerei und ein Zeitungsunternehmen vorhanden wären. Bürgermeister Bachhuber, der erst vor kurzem die Leitung der Stadt übernommen hat, erkennt die Bedeutung der Lokalpresse für das Gedeihen der Stadt. Er antwortet, ein fachmännisch geleitetes Zeitungsunternehmen könne hier wohl seine Existenz finden (Lychener Zeitung, 26. Jahrgang, Nr. 139 vom 16. Juni 1928).
Otto Schumanns Verwandte, Familie Beholtz, betreiben eine Druckerei in Stavenhagen. Sie wird später vom Cousin des Vaters von Ursula Rakow weitergeführt und 1945 enteignet. Weitere Verwandte, Paul Beholtz und dessen Schwester Grete, haben eine Druckerei in Frankfurt/Oder. Sie ist im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt.
Ich möchte mehr über die Lychener Druckerei und den Verlag Schumann & Nick erfahren. Deshalb treffe ich mich mit Ursula Rakow, der Enkelin von Otto Schumann, zu einem interessanten Gespräch.
Otto Schumann kommt also 1903 nach Lychen und richtet die Druckerei zuerst auf dem Sperlingschen Grundstück in der Fürstenberger Straße 126 ein. Heute befindet sich dort ein leeres Geschäft mit Werbung  für die "Neue Lychener Zeitung". Mit der Druckerei wird eine Buch- und Papierhandlung verbunden. Zügig erfolgt die technische Einrichtung, und am 16. Juni 1903 erscheint die erste Ausgabe der "Lychener Zeitung".
Der Verlag W. Bethke in Templin gab zuvor den "Lychener Anzeiger" heraus. Der wird von der Druckerei Schumann aufgekauft und stellt sein Erscheinen ein. Für die Veröffentlichung der amtlichen Bekanntmachungen holt sich die "Lychener Zeitung" die offizielle Genehmigung durch den Regierungspräsidenten ein.
Bald sind die Gewerberäume für die Druckerei zu klein. Deshalb werden die Geschäftsräume am 1. April 1911 in die Stargardter Straße 55a verlegt. Das Grundstück gehört Ernst Collin. Hier befindet sich auch die Mecklenburger Kredit- und Hypothekenbank.
1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Für Otto Schumann als Verleger beginnt eine schwere Zeit. muss er doch seine Mitarbeiter für den Heeresdienst freigeben. Das wenig geübte Ersatzpersonal wechselt häufig. Ein weiteres Missgeschick trifft die Familie 1915. Otto Schumann wird schwer krank und schließt am 2. März 1924 seine Augen für immer.
Seine Ehefrau, Liane Pauline Schumann, geb. Beholtz, führt das Unternehmen weiter, bis es am 1. April 1924 Werner  Schumann und dessen Schwager Carl Nick übernehmen. Für kurze Zeit befindet sich auch die Buch- und Papierhandlung in der Stargardter Straße. Aber schon Ende des Jahres eröffnet sich die Chance, ein eigenes Haus, das Grundstück Fürstenberger Straße 111, zu erwerben. Vorher befand sich dort die Kartonfabrik Höppner. Gleich in den ersten Monaten des darauf folgenden Jahres zieht das beträchtlich größer gewordene technische Inventar zusammen mit dem Buch- und Papiergeschäft ins eigene Heim.
Am 29. August verstirbt Lina Schumann, die treue und fleißige Gefährtin des Gründers der Druckerei.
In all' diesen bewegten Jahren erscheint die "Lychener Zeitung". Anfangs zweimal, in den Folgejahren dreimal pro Woche. Ab dem 1. Januar 1928 gibt der Verlag Schumann & Nick das Blatt wöchentlich sechsmal heraus. Das erfordert eine weitere Umstellung und Erweiterung des Betriebes.
Mit verschiedenen Verlagen in der Uckermark, Mecklenburg und Berlin entwickelt sich ein reger Informations- und Zeitungsaustausch, so z. B. mit Frau Maas - Fürstenberger Anzeiger, mit dem Prenzlauer Verlag Schimmel - Uckermark-Kurier, mit dem Templiner Verlag Kortes - Templiner Kreisblatt.
Die "Lychener Zeitung" druckt interessante Artikel anderer Blätter ab. Aus Bützow/Mecklenburg und aus Berlin kommen die Matern mit frischen Nachrichten per Post oder mit der Bahn.
Unsere Stadtzeitung bringt Berichte aus aller Welt. Sie schreibt über Politik und Wirtschaft, über Sportveranstaltungen und Ereignisse im Ort. Die vierte Seite bleibt den Inseraten vorbehalten. Aus der Lychener Bevölkerung kommen ebenfalls Beiträge. Ursula Rakow erinnert sich: "Herr Gerhard Wouters hat als Schüler des Landschulheimes Artikel geschrieben. Er kam fast jeden Nachmittag in die Druckerei. Obwohl jünger, war er mit Vater befreundet."
Ich frage meine Gesprächspartnerin, ob sie auch etwas mit der "Lychener Zeitung" zu tun hatte. "Ab dem letzten Schuljahr durften wir die Zeitungen austragen", erzählt sie. "13 bis 15 RM gab es dafür im Monat. Meine Strecke begann am Central-Hotel, dann die Vogelgesangstraße bis Oberpfarrer Telle, die Tornow-Straße und die Kirchstraße hoch und zurück zum Central-Hotel. Das waren jeden Tag 100 bis 105 Exemplare, manchmal auch nur 90. Wenn Frau Koslowski im Berliner Haus in der Vogelgesangstraße für drei bis vier Wochen verreist war, brauchte ich zum Glück nicht die vielen Treppen nach oben zu steigen. Die Zeitung wurde ihr nach Berlin geschickt. Jeden Tag kam August Lassahn im Auftrag der Stadt und holte fünf Zeitungen ab."
Die Lychener Abonnenten erhalten die Zeitung für monatlich 1,40 RM frei Haus. Das besorgen täglich acht Austräger, wie u. a. Helmut Möhl und Alfred Döhring.
Wer will, kauft das Blatt direkt in der Buchhandlung. die Staatsbibliothek in Berlin erhält jede Ausgabe per Post.
Carl Nick ist all' die Jahre für den technischen Druck verantwortlich. Er verstirbt 1939.
Wenn die Rotationspresse arbeitet, herrscht Hochbetrieb. Die Anlage ist gleich mit der Falzmaschine gekoppelt. Der Stolz der Druckerei aber ist der Heidelberger - eine moderne Druckmaschine aus den dreißiger Jahren, die halbautomatisch funktioniert. Sie ähnelt einem menschlichen Oberkörper. Der eine Arm greift mit Saugluft das Papier und bringt es an die Druckplatte. Dabei kippt die Maschine nach vorn und druckt. Der andere Arm nimmt das Blatt mit Saugluft ab und legt es zur Seite.
Die Setzplatten werden mit der Hand gesetzt. Platten für Rechnungsformulare werden mit Band umwickelt und aufbewahrt.
1945 findet dieses schöne Kapitel der "Lychener Zeitung" sein jähes Ende. Wohnhaus, Geschäft und Druckerei liegen in Schutt und Asche. Am 29. April wird die Herausgabe der Lychener Tageszeitung eingestellt. Zudem verbietet die sowjetische Besatzungsmacht den Druck von Zeitungen und Zeitschriften. In der Stadt werden Anzeigentafeln aufgestellt.
Mit großer Mühe bergen Schumanns mit ihren Helfern die Maschinen aus den Trümmern. In den großen Werkräumen der UTAG reinigen das Ehepaar Köller, Martha Sellin, Else Jungblut und Ursula Rakows Eltern die Teile. Einige Maschinen können repariert werden. Sie kommen in die notdürftig wieder aufgebaute Druckerei. Auch der Heidelberger ist dabei.
Ursula Rakows Sohn Klaus beschreibt während des Gesprächs ein Detail, das ihm aus seiner Kindheit in Erinnerung bleibt: "Am Heidelberger hing unten ein Behälter. Er war in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Großvater Werner Schumann, passionierter Zigarrenraucher, drückte in dem Behälter die Stummel aus. Schriftsetzer Paul Voge stopfte sich dann mit dem restlichen Zigarrentabak die Pfeife."
Zigarren sind in der Nachkriegszeit nicht oft zu haben. Auch Gärtner Richard Ambellan hat als großer Zigarrenfreund darunter zu leiden.. Mit Werner Schumann ist er befreundet. Eines Tages gehen sie am Konsum von Frau Beckmann vorbei, denn dort gibt es ab und zu Tabakwaren. Aber - immer noch keine Zigarren. Also schreiben sie mit Kreide auf die Angebotstafel vor der Ladentür: "Rauchware frisch eingetroffen". Vom Fenster der Druckerei aus beobachten beide dann mit diebischer Freude, wie die Raucher in den Laden strömen, um enttäuscht wieder von dannen zu ziehen. Frau Beckmann muss sich sehr gewundert haben.
In seiner Druckerei hat Werner Schumann in der DDR-Zeit Sorgen mit dem Papier. Die Lieferugen sind knapp. Und so richtet er ein Schreiben an den Staatsrat mit der Androhung, die Druckerei zu schließen, falls er kein Papier erhält. Die Angelegenheit wird schnell geregelt, denn die Druckerei Schumann & Nick arbeitet auch für die Nationale Volksarmee im Schloß Boitzenburg/Uckermark. Für das Hospital der Roten Armee in Hohenlychen werden die Lebenmittelabschnitte angefertigt. Deshalb bringen die Russen manchmal auch Papier und Brot. Die kyrillischen Buchstaben schneidet Werner Schumann aus Schuhmachergummi. Im Buch- und Papierladen bedient er die Kunden freundlich mit Witz und Humor. Einmal verlangt eine Kundin Umschläge. Werner Schumann fragt promt zurück: "Welche wollen sie denn, kalte oder warme?"
Ehefrau Frieda Schumann, geb. Stimm, musste sich vor dem Krieg um die drei Kinder kümmern und den Haushalt führen. Aber nach 1945 arbeitet sie im Laden mit. Sie verstirbt im April 1984. Tochter Ursula bedient seit 1945 ebenfalls im Geschäft. Sie hilft in der Druckerei mit, denn jede Hand wird gebraucht. Die Falzmaschine, halb so groß wie ein Tisch, arbeitet mit Fußbetrieb. Die Papierschneidemaschine mit dem großen Rad muss bedient werden. Ihr Sohn Klaus bringt das Messer regelmäßig zum Bahnhof Lychen und holt es wieder ab, denn es wird in Leipzig geschärft.
Die Druckerei erfüllt die verschiedensten Aufträge ihrer Kunden. Horst Benedix hat als Stadtangestellter und Bearbeiter des Archivs in den Jahren 1967 bis 1970 des öfteren mit Werner Schumann zu tun. Er holt die vorgedruckten Briefumschläge und Kopfbogen für die Stadtverwaltung ab. Für die fachmännische Registrierung des Archivmaterials und die Eintragung der Akten gibt ihm Werner Schumann ein Findbuch aus Friedenszeiten. Es ist noch in altdeutscher Schrift gedruckt. Für Friedhofsgärtner Albert Schulz holt er die bestellten Kranzschleifen ab.
Der Betrieb arbeitet bis zu Werner Schumanns Tod am 26. August 1969. Die Familie löst das Gewerbe auf. Die Maschinen werden verschenkt oder verkauft. Der gute alte Heidelberger geht an eine Buchdruckerei in Schwerin. Das Haus der Jungen Pioniere in Templin erhält die Pappschneidemaschine als Geschenk. In die Räume zieht die Polsterei Schönefuß ein.
Wer heute ein Original der "Lychener Zeitung" besitzt, kann stolz sein. Früher jeden Tag von vielen gelesen, ist sie heute eine echte Rarität.

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