Erinnerungen und Schicksale der Apotheker-Familie Spangenberg (Teil I)
Renate Mertens erzählt eine Lychener Lebensgeschichte
Auf dem jüngsten Historienstammtisch warteten unsere geschichtsinteressierten Lychener gespannt auf den angekündigten Gast aus dem fernen rheinländischen Wiehl. Und dann kam sie, Renate Mertens in Begleitung ihres Ehemanns und ihres Sohnes. Von allen freudig begrüßt, zeigte sie uns einen schmucken alten Lederkoffer: „Hier ist alles drin für die heutige Diskussionsrunde. Fotos und Dokumente der großen Familie Spangenberg und künstlerische Werke meines Vaters. Ein Koffer, der uns ein Leben lang begleitet hat.“
Renate Mertens als Gast des Historienstammtisches. Farbfotos: J. Hantke.
Schon während der Kaffeerunde reichte sie Fotoalben, Kinderbücher und Gemälde zur Anschauung herum.
Dann erzählte Renate Mertens locker und mit fester Stimme die Lebensgeschichte der früheren Lychener Apotheker-Familie, die sie zuvor auch für die Leser der NLZ aufgeschrieben hatte. Sie ist so reich an Ereignissen, dass wir sie in zwei Folgen veröffentlichen möchten.
Um die Jahrhunderwende – zwischen 1895 und 1902 – kommen zwei junge Apotheker per Fahrrad den Angelberg von Hohenlychen herunter, erblicken das Städtchen zwischen Oberpfuhl und Stadtsee gelegen und entscheiden spontan: „Herrlich, hier bleiben wir!“ Sie kommen aus dem hessischen Hersfeld und sind auf der Suche nach einer Apotheke, die sie übernehmen können. Und sie haben Glück! Die Brüder Alfred und Hans Spangenberg kaufen die Adler-Apotheke am Markt gegenüber dem Rathaus.
Die alte Adler-Apotheke am Markt. Foto: E. Kaulich, Archiv.
Hieß sie damals schon so? Und breitete der große, ausgestopfte Seeadler damals schon seine Schwingen in dem Vorraum aus? Ich weiß es nicht.
Auf einer Hochzeit bei entfernten Verwandten in Schleusingen/Harz lernt Hans seine Frau Hanna Simon aus Charlottenthal/Westpreußen kennen. Sie heiraten, und in den nächsten Jahren werden drei Kinder geboren: !903 Tochter Dora, 1904 Sohn Heinz und 1911 Gerda-Maria.
Hans Spangenberg, portraitiert von Jochen Grieben.
Bruder Alfred bleibt Junggeselle. Sie teilen sich die Arbeit und verleben glückliche Jahre.
1914 wird Hans Spangenberg eingezogen, kehrt jedoch unverwundet als Hauptmann nach dem Krieg wieder heim. Die Hungersnot in den Kriegsjahren wirkt sich hier in Lychen nicht so sehr aus. Man hat ja zwei Gärten am Stadtsee und am Nesselpfuhl. Die Familie hält sich einige Ziegen und Gänse, und Vater schickt sogar anfangs einige leckere Fresspakete aus Frankreich.
Vermutlich in den 1920er Jahren bauen sie an jedem Garten ein Bootshaus. Am Stadtsee für ein geräumiges Segelboot – angeblich ostseetüchtig, aber ohne Kajüte, am Nesselpfuhl für zwei Paddelboote. Das Sommerleben in Lychen blüht auf. Die Heilanstalten wachsen. Lychen wird Luftkurort und Ziel vieler Urlauber, vor allem der Berliner. Die zwanziger Jahre sind die Jahre bürgerlicher Geselligkeiten. Viele Familien haben Boote und treffen sich sonntags auf dem Wasser und an den idyllischen Ausflugsorten Kuckuckswerder, Brenneckenswerder, auf der „Karnickel-Insel“ und am Forsthaus Woblitz. Man lebt einfach! Nimmt z. T. eigenen Kuchen mit und bestellt nur den Kaffee.
Von Fotos und Erzählungen kenne ich noch die Namen der „Honoratioren“ Dr. Lottner, Dr. Gerlach, Familie Roffhack. Aus eigener Kindheit Oberpfarrer Telle und Pastor Knothe mit Familie. Die älteste Tochter vom letzteren, Frau Hilde Pantel, geb. Knothe, kommt noch heute mit über 90 Jahren nach Lychen zum Schülertreffen.
Sehr schade, dass nach 1945 die schönen Ausflugsziele enteignet und jetzt privatisiert wurden. Nur Grünheide und Lindenhof sind als Gaststätten für die Öffentlichkeit geblieben. Doch zurück zur Familie Spangenberg!
Im Hause Scherz am Oberpfuhl treffen sich junge Künstler aus Berlin zu fröhlichem Landleben zwischen Wasser und Wäldern. Dort lernt meine Mutter Dora meinen Vater Jochen Grieben kennen, der sich als Maler für die Lychener Landschaft begeistert.
Jochen Grieben in den 1920er Jahren.
Er hat in Berlin Kunsterziehung studiert. Mit diesem Koffer, den ich heute noch von ihm habe, unternahm er seine erste Malreise nach Südfrankreich und Marokko, wo sehr schöne Bilder entstanden. Er textete und illustrierte originelle Kinderbücher. Zwei davon habe ich mitgebracht. In Lychen schuf er z. B. ein Gemälde von der St.-Johannes-Kirche aus der Perspektive der Vogelgesangstraße mit dem Giebel des alten Knaakschen Hauses.
Bei klirrendem Frost, am 3. März 1929, heiraten sie.
Dora Spangenberg in den 1920 Jahren. Fotos: Renate Mertens.
Auch Sohn Heinz Spangenberg heiratet im Februar 1930 seine Gertrud aus Stralsund nach Beendigung seines Pharmazie-Studiums. Beide Paare bleiben in der Apotheke wohnen. Im September 1931 werde ich, Renate Grieben, geboren – übrigens sonntags bei den Klängen der Feuerwehrkapelle, die auf dem Marktplatz ein Konzert gibt.
Auf Vorschlag meines Großvaters, der meint, Malen sei doch eine brotlose Kunst, die Apotheke könne auch zwei Familien ernähren, nimmt mein Vater das Studium in Rostock auf und schließt es am 22. Februar 1934 ab. Meine Mutter bleibt derweil mit mir bei den Eltern. Am Tage des Examens jedoch verunglückt mein Vater tödlich – ein Schicksalsschlag, von dem sich meine Mutter nie erholen sollte.
Der zweite „Hoffnungsträger“, Heinz – er wurde 1933 Vater des Sohnes Peter Spangenberg – ein sportlicher junger Mann, erkrankt an Multipler Sklerose und stirbt am gleiche Tag wie mein Vater drei Jahre später in Stralsund im Hause seiner Schwiegereltern. Auch seine junge Frau Trude heiratet nicht wieder und bleibt im Hause Spangenberg mit ihrem Peter.
Der Zweite Weltkrieg bringt es mit sich, dass die zwei alt gewordenen Brüder Hans und Alfred weiterhin allein die Apotheke führen, aber unterstützt von den beiden Witwen Dora und Trude als angelernte Apotheker-Helferinnen.
Mein Vetter Peter und ich wachsen wie Geschwister auf und verleben mit Freunden und Nachbarskindern eine trotz allem schöne und unbeschwerte Kindheit. Reisen werden kaum unternommen. Man hatte ja die Boote und die unvergleichliche Natur.
Seit ca. 1937 beschäftigt unsere Familie ein treues Hausmädchen, Lotte Hagen (damals 16 Jahre), mit der ich bis an ihr Lebensende vor zwei Jahren verbunden war. Sie starb als Lotte Jäger in Himmelpfort.
Das dritte Kind von Hans und Hanna Spangenberg, Gerda Maria, setzt sich als junge, moderne Frau durch und erlernt einen „richtigen „ Beruf – damals noch ziemlich unüblich. Sie wird Fotomeisterin, bleibt unverheiratet und betreibt bis lange nach dem Krieg ein angesehenes Fotostudio in Frankfurt/Oder, wo sie 1981 stirbt. Auch sie bleibt ihr ganzes Leben lang mit Lychen fest verwurzelt. Ihre Ferien verbrachte sie fast nur hier, am liebsten mit Hund und Buch im Paddelboot, wie mein Vater sie in einem Holzschnitt dargestellt hat.
(Fortsetzung folgt).