Die Kornmuhme
Pflanzengeister als Beschützer der Felder im Glauben unserer Vorfahren
Auf meiner letzten Fahrt mit dem Regio-Zug nach Berlin schaute ich hinaus auf die gelben Äcker mit ihren ährenschweren Halmen, durch die Schneisen mit niedergedrücktem Korn liefen. Ich dachte an meine Kinderzeit und fing an zu träumen von Großmutter und ihrer Futtersuche für unser Kleinvieh am Rande der Felder und Wiesen in den 1950/60er Jahren. Mich nahm sie immer mit, setzte mich auf den leeren Sack in dem Kindersportwagen, und auf der Rücktour zur Mittagszeit saß ich auf dem mit Gräsern und Kräutern gefülltem, vollen Sack obenauf.
Gerne lief sie mit mir hinauf zur Bredereicher Landstraße, an der die Neuländer oberhalb des Stadtsees vor den Eisenbahnschienen lagen. Die weiten Flächen waren in viele Felder aufgeteilt, auf denen vor allem Kartoffeln, Roggen oder Runkeln gediehen.
Schön war es, auf den Wegen entlang zu wandern und bei warmem Wind auf das wogende Ährenmeer zu schauen.
Am Rain und auf Brachflächen hatten sich würzige Kräuter angesiedelt, die Hasen, Schafen und Ziegen schmackhaftes Futter boten.
So zog es meine Großmutter, Anna Hackert, von uns einfach Mutter genannt, immer wieder zum Futterschneiden dorthin.
Wenn jedoch nach starkem Regenguss oder heftigem Wind das Korn niedergeschlagen dalag, meinte sie wohl wissend zu mir:“Guck‘ mal, da ist der Roggenwolf durchgejagt. Der
Bauer muss ihn wieder ruhig stimmen und ein paar Knochen als Futter ins Feld legen.“
Mag es Ende Juni gewesen sein? Ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls stand der Roggen sehr gut. Auf langen, grünen Halmen blühten die Ähren. Sanfter Sommerwind wehte den Blütenstaub durch das Kornmeer und sorgte für reiche Befruchtung.
Mutter stellte den Wagen am Wegesrand ab, band sich die Schürze wie immer so geschickt um, dass diese wie ein weiter Beutel vor ihr hing, in den sie Schritt für Schritt das geschnittene Kraut tat.
Ich hatte mich indessen aufgemacht zu den blauen Kornblumen und dem leuchtenden Feldrittersporn im Roggen. Mutter schaute hoch, rief mich zurück und begann mit mahnender Stimme: "Gib acht, dass Du nicht in den hohen Roggen hinein läufst, denn das ist sehr gefährlich. Im Roggenfeld lebt die Kornmuhme. Sie lockt Dich mit bezaubernden Worten und Gesang immer tiefer in das Feld hinein. Du findest nimmermehr heraus und bleibst bei der Kornmuhme gefangen."
Im ersten Augenblick war ich sprachlos. Fasste mich aber wieder schnell und wollte es nun genauer wissen: "Mutter, wie sieht denn die Kornmuhme aus?" Ich wartete gespannt.
Mutter war auch diesmal wegen der Antwort nicht verlegen: "Es ist eine grüne Frau. alles an ihr ist so grün wie die Roggenhalme. Nur ihr Haar ist gelb wie die Roggenblüten. Du kannst sie kaum erkennen. Eigentlich nur an ihren leuchtend roten Augen, die Du, nichtsahnend, für aufbrechende Mohnknospen hältst. Lang sind ihre grünen Finger mit denen sie Dich lockt, wenn sie mit leiser Stimme ihre wunderschönen, betörenden Lieder singt."
Ich hörte Mutter wie gebannt zu. "Also, bleib' schön am Rand und schau' nicht so tief in den Roggen hinein," mahnte sie mich ein zweites Mal.
Zögernd, etwas ängstlich aber zugleich neugierig kehrte ich zum Roggen zurück, um mir Kornblumen in kräftigstem Blau zu pflücken. Dabei blickte ich doch zwischen die Halme hindurch, so weit mein Auge reichte. Ich hockte mich hin, ging auf die Knie und krabbelte mit Händen und Knien weiter in das Korn hinein.
Plötzlich packte mich jemand am Kragen! Mutter war es. Sie zog mich mit strengem Blick zurück. "Auch wenn Du die Kornmuhme nicht siehst und sie Dich nicht ruft, darfst Du niemals in ein Kornfeld hinein gehen und Halme mit Ähren zertreten, denn aus jedem Korn wird Mehl gemahlen. Und aus Mehl backt der Bäcker unser Brot."
Ich habe die Kornmuhme weder gesehen noch gehört. Mutters Erzählung aber hatte mir Respekt eingeflößt. Immer, wenn ich leuchtende Kornfelder sehe, denke ich auch an die Kornmuhme und - ich kann sie nicht vergessen.
Heute, in unserer Zeit, in der Götter, Geister und Dämonen durch Fernsehen und „Bild“ vorgegeben werden und nur einige Menschen sich das Recht nehmen, frei zu denken, spielen die Korngeister keine Rolle mehr. Sie gehören aber zu unserem reichen Sagenschatz, zu den mystischen Vorstellungen unserer Vorfahren und deren Ordnungssystem im Verhältnis zu Natur und Umwelt.
Der Glaube an Korndämonen ist uralt und stammt schon aus der Zeit der Germanen und Slawen. Die Korngeister waren die Hüter der Getreidefelder und der Fruchtbarkeit. Sie hatten Tier- oder Menschengestalt und hießen je nach Region beispielsweise Kornmuhme, Roggenmuhme, Kornmutter, Kornjungfer, Ährenfrau oder Getreidemann; Roggenwolf, Kornhund, Roggensau.
Die Kornmuhme gehört zu den Pflanzengeistern, feinstoffliche Wesen, die dafür sorgen, dass die Pflanzen ungestört wachsen und gedeihen können. Zum Kinderschreck wurde sie wohl deshalb gemacht, weil Kinder früher gerne mal ins Korn gelaufen sind, um sich Feldblumen für Sträuße und Kränze zu pflücken. Als schwarze oder ganz weiße Frau und runzelige Alte wird sie oft beschrieben. Weshalb meine Großmutter ihr ein grünes Aussehen verliehen hat? Ich weiß es nicht. Vielleicht waren die Lychener Kornmuhmen doch eher grün?
Roggenwolf und Roggenhund galten als Symbole für die vernichtende Kraft höherer Mächte wie Sturm, Hagel, Regen und Frost. Sie mussten gnädig gestimmt werden. Die Schnitter ließen oftmals eine Rückzugsfläche mit Halmen stehen. Die letzten Halme wurden mancherorts zu einer kunstvollen Garbe gebunden, besonders geschmückt und für den Korngeist auf dem Feld zurück gelassen.
Literaturhinweis: Sage „Roggen-Muhme“ (Nr. 89 Grimms Deutsche Sagen-Sammlung Band I 1816)
Fragst Du mich nun zum Schluss: „Wie geht es denn diesen feinstofflichen Pflanzengeistern heute auf den Feldern der industriellen Landwirtschaft, auf denen Pflanzen- und Insektengifte versprüht werden?“ Meine Antwort: „Ich denke, dass sie zu den Bauern mit ökologischer Landwirtschaft abgewandert sind. Dort sind die Lebensumstände und auch die Produkte zweifellos für alle besser.“