Die verzwickte Zwecke
Welche
Verwirrung unsere Lychener Pinne verursachen kann, wenn wir sie üblicherweise Reißzwecke nennen, habe ich kürzlich bei einer Touristen-Führung durch unser Städtchen erlebt. Ein Herr fragte mich
mir durchdringendem Blick: "Weshalb heisst das Ding hier in Lychen Reißzwecke? Haben denn nicht die Reiss-Werke in Bad Liebenwerder darauf ein Patent?" Ratlos und aus Sorge um das Lychener
Pinnen-Image fragte ich die Geschäftsführerin des Fremdenverkehrsamtes und die damalige Hauptamtsleiterin der Stadtverwaltung.
Beide brachten Licht in mein Dunkel. Mit beruhigenden Worten drückte mir die Geschäftsführerin das informative Faltblatt "Eine patente Erfindung aus Lychen. Die Reißzwecke" in die Hand. Die
Hauptamtsleiterin hatte sich schon mit den Reiss-Werken in Verbindung gesetzt und versicherte mir, beide Erfindungen wären technisch unterschiedlich konstruiert, und somit hätte jeder Stift sein
eigenes Patent.
Was ich für mich dann noch herausgefunden habe, ist folgendes: Die Firma Reiss bot schon in ihrem ältesten Katalog um 1900 Reissbrettnägel an mit sehr feinem Stift, speziell angefertig für die
Reiss-Bretter. Sie passten haarscharf in die Maserung des Holzes und hinterließen keine sichtbaren Löcher. Der sehr dünne Stift wurde wohl auch anders befestigt als bei Lindstedts Zwecke. Bei
Lindstedts Patent dagegen wurden Zungen in die Kopfplatte eingestanzt und nach dem Zentrum der Kopfplatte umgebogen, um den Stift zu halten. Das verhinderte auch das Durchdrücken des Stiftes
durch die Kopfplatte. Uhrmacher Kirstens Erfindung hatte diese Perfektion noch nicht. Er stanzte nur den kurzen Nagel mit einer gewölbten Blechplatte zusammen. Der drückte durch und war schneller
im Daumen als in der Wand.
Verwirrend bleiben allerdings für mich immer noch die verschiedenen Bezeichnungen: Also, ich verstehe das so: Uhrmacher Kirsten pinnte seine Zettel an die Wand. Deshalb nannte er den Stift in
volkstümlichen Deutsch "Pinne". Nach dem alten Duden von 1956 (!) ist das ein Lehnwort aus dem Lateinischen, im Niederländischen und Niederdeutschen - und nach dem neuesten Duden - auch im
Hochdeutschen üblich. Na, und englisch, z. B. "pin up girl"!
In Lindstedts Patentschrift von 1904 trägt sein Produkt die Bezeichnung "Heftzwecke". Aber auf den Schachteln heißen sie eine Zeit lang "Sicherheits-Heftnägel", dann
"Sicherheits-Reissbrettstifte" und in der DDR-Zeit "Reißnägel". Vielleicht nahm man es mit der Bezeichnung nicht so genau. Oder vielleicht steckt hinter jedem neuen Namen doch ein Sinn? Ich
sollte einfach nicht soviel nachdenken und so handeln, wie der Genosse Delegierte früher auf dem SED-Parteitag: Er kommt in den Plenarsaal und will Platz nehmen. Da sieht er auf seinem Sitz eine
Pinne mit dem Stift nach oben. Er zögert einen Moment. Setzt sich aber gleich
und sagt sich: "Nun, die Genossen werden sich schon was dabei gedacht haben".
Heute heißen ja die kleinen spitzen Dinger mit den knallbunten Köpfen "Reißzwecken" und werden weltweit hergestellt, auf alle Fälle, denke ich mal, in China. Nach dem neuen Duden mit "ß"
geschrieben, ebenso wie das Reißbrett. Was wohl der alte Fabrikant Reiss aus Bad Liebenwerder dazu sagen würde? Na ja, die Entwicklung unserer Sprache und Schrift geht eben ihre eigenen Wege.
Unsere Lychener Reißzwecke jedenfalls stammt von der Pinne ab. Uhrmacher Kirstens Verdienst. Ob aber die Idee allein seinem Erfindergeist entstammt, sei erst einmal dahin gestellt. Junge Forscher
sollen nämlich während der "Raumkunsttage Lychen. Reisszwecke 05" (verflixt! die Studenten haben das Ding mit "ss" geschrieben) herausgefunden haben, dass sich bereits Johann Kirstens Vater mit
der Zwecke beschäftigt hätte.
Da finde ich zum Schluss nur noch die Worte: "Die Zwecke bleibt verzwickt."