Auf der Suche nach dem Judasohr
Beim Lesen dieser Überschrift wird sich der Leser wohl fragen, wie will er denn das Judasohr in der Uckermark finden, wo doch der biblische Judas vor grauen Zeiten in Palästina lebte. Das ist wohl wahr. Mir ging es beileibe nicht um den ganzen Judas sondern lediglich um das Judasohr. Das ist allerdings ein seltener Pilz, dessen Formen manchmal Ähnlichkeiten mit einem Ohr haben. Wer ihn einmal nach dem Jesusjünger Judas benannt hat, entzieht sich leider meiner Kenntnis.
Das Judasohr ist deshalb selten zu finden, weil es nur auf Holunderholz wächst. Holunder ist zwar überall bekannt, aber große, sehr alte Sträucher zu finden, ist gar nicht so einfach. Ein Kenner der heimischen Landschaft erzählte mir einmal, er wüsste, wo das Judasohr zu finden sei, nämlich an den Ufern zweier Seen nördlich von Lychen. Die genaue Stelle verriet er mir jedoch nicht.
So trug ich mich wochenlang immer wieder mit dem Gedanken herum, an diesen Seen auf die Suche zu gehen. Ich überlegte, ob ich das Fahrrad nehme oder mit dem Auto dorthin fahre. Als ich mir vor wenigen Tagen einen schönen sonnigen Nachmittag für die Wanderung aussuchte, war es mir für eine Radtour einfach zu heiß. Deshalb stieg ich mit Kamera, Messer und Korb ausgerüstet in meinen silbergrauen Ford Fiesta, der solche abenteuerlichen Fahrten bereits gewohnt ist.
Ich stuckerte über die holprige, schlecht gepflasterte Landstraße und stellte den Wagen in der Nähe des kleinen Badestrandes ab. Keine fünfzig Meter entfernt sah ich das mit Weiden und Pappeln bewachsene Dickicht am klaren, malerisch gelegenen See. Mit meinen besten Laufschuhen an den Füßen war ich frohen Mutes, durch hohes Gras, über Stock und Stein irgendwo und möglichst bald die Holundersträucher zu finden. Von außen pirschte ich mich heran und schaute immer wieder zwischen Weiden und Pappeln, ob ich Holunder entdecke. Nichts dergleichen. „Vielleicht musst Du mal tiefer eindringen bis fast an den Rand des Wassers. Kann sein, dass dort welche stehen“, sagte ich mir und kämpfte mich zu meinem Entsetzen durch mannshohe Brennesseln, immer Arme und Korb in Augenhöhe, denn ich hatte ein kurzärmeliges T-Shirt an. In dem Dickicht war alles naturbelassen. Ich hatte aufzupassen, nicht über faulende Stämme, trockene Äste und bemooste Feldsteine zu stolpern. „Ah! Da schimmern Holunderblätter hindurch“, flüsterte ich allein für mich. Junge, saftige Bäumchen waren es nur, von alten Holunderstämmen keine Spur.
So erging es mir bei jedem neuen Versuch am Nordufer des Gewässers. Schon stark erhitzt und ziemlich verschwitzt hörte ich das Lachen und Rufen badender Kinder von fern. Das machte mich noch verdrießlicher. Schließlich, nach einer guten Stunde, gab ich auf, kehrte auf nassem Acker zum Pkw zurück und tröstete mich mit den Gedanken: „Jetzt weißt Du zumindest, dass es hier so gut wie keinen Holunder und deshalb auch kein Judasohr gibt.“
Für die Rückfahrt nach Hause wählte ich eine andere, bessere Straße, die zuerst durch das nahe gelegene Dorf führt und dann am Rande der Nordseite des Sees zu einer asphaltierten Landstraße führt. Während der Fahrt schaute ich immer wieder zum See hinunter und überlegte, ob nicht vielleicht am sonnenüberfluteten Nordufer die uralten, sagenhaften Holundersträucher stehen.
Kurz entschlossen hielt ich vor einer Bank am Wegesrand, stieg mit Kamera, Korb und Messer aus und spähte in der Gegend herum. „Wahrhaftig“, lachte ich. Da stehen welche!“ Aber was sah ich, sie waren ganz und gar mit wilden Hopfenranken überzogen. Das Gras stand auch hier hoch und dicht, durchzogen von dornigen Brombeeren. Dazwischen lagen große Feldsteine der Endmoränenlandschaft. Außerdem war das Gelände sehr abschüssig.
„Gucken musst Du“, ermunterte ich mich. „Nur zu! Kämpfe Dich durch!“ Zwischen und unter den Büschen war es wie im Urwald. Lianengleich hatte der Hopfen dicke Seile geflochten. Brennesseln und Gestrüpp versperrten den Weg.
Da schien die frühe Abendsonne auf einen trockenen Ast, und ganz bescheiden zeigten sich mehrere kleine Judasöhrchen. „So müssen die Ohren des Judas als Kind ausgesehen haben,“ kommentierte ich die bescheidene Entdeckung. Aber - immerhin – vorsichtshalber machte ich zwei Fotos und zugleich auch ein Bild von dem üppigen Gestrüpp.
„Nun aber nichts als raus hier und ab nach Hause“, meinte ich, mich entschlossen zu haben. Ich kroch den Hang wieder hoch.
Oben angekommen, sah ich, wie der grasbewachsene Weg hinunter zum Seeufer führte. Neugierig nahm ich ihn, denn er war bequem. Nach kurzer Zeit erblickte ich mächtige Holundersträucher. Einige von ihnen hatten das Ausmaß wahrer Bäume. So lief ich immer weiter und schaute nach abgestorbenen Stämmen. Nichts war davon zu sehen. Selbst die Dickstämmigsten standen in vollem Saft und waren übersät von noch unreifen Holunderbeeren. Mich blendete die Abendsonne. So konnte ich schlecht in das Halbdunkel der Büsche schauen. Nach mindestens dreihundert Metern gab ich auf und trat – nun endgültig – den Rückweg an.
Kaum jedoch hatte ich mich umgedreht und ein paar Schritte getan, da stand vor mir ein starker, vom Sturm umgeknickter und zersplitterter Stamm. Ich traute meinen Augen nicht! Zwei volle, braune Büschel mit herrlichsten Judasohren wuchsen aus dem Holz heraus. „Donnerwetter“, dachte ich bei mir, das sind die Ohren eines erwachsenen, starken Judas!“ Gleich schoss ich Fotos und schnitt danach vorsichtig die Pilze heraus.
So hatte sich die Mühe gelohnt, und zugleich habe ich eine interessante und schöne Gegend kennen gelernt. Denn da war ich noch nie! Nun werde ich probieren, wie das Judasohr schmeckt!