Meine weiße Hakenlilie
Meine weiße Hakenlilie gehört zu den Pflanzen, die schon viele Jahre bei mir ihr zu Hause haben. Ich bin ihr zum ersten Mal begegnet, als in Berlin noch die alte Markthalle am Rande des Alexanderplatzes stand.
Der Besuch dieser Markthalle war immer dann angeraten, wenn ich etwas Besonderes suchte und kaufen wollte. Neben den üblichen Ständen wie Lederwaren mit Taschen, Koffern und Portemonnaies, Kurzwaren mit Strümpfen, Handschuhen, Wolle zum Stricken und Garn zum Nähen, Schnaps und Wein, Lampen und Elektrowaren, Korbflechterei und Lebensmittelständen, Gemüse und Obst vom Konsum und der staatlichen HO gab es auch frisch gegrillte Broiler mit knackigen Brötchen, gleich daneben Kaffee und Limonade. Wer noch nicht zu Mittag gegessen hatte, kaufte sich eben mal gleich einen halben Broiler, dazu Bier, Kaffee oder Limo und ging nach draußen zu den Tischen und Stühlen. Genüsslich, ohne Hast sondern in Ruhe wurde das Mahl verzehrt. Einge Meter weiter, in der Höhe, ratterten die S-Bahn-Züge, die am Bahnhof Allexanderplatz ein- und aus fuhren. Gut gestärkt machte das Einkaufen trotz der Engpässe Spaß.
Kurz vor Weihnachten waren Bananen und Apfelsinen die Attraktion. Leuchtend orange Apfelsinen gab es nur zu Weihnachten. In der übrigen Zeit bekam man - wenn man Glück hatte und drauf zu kam - die grüngelben Orangen aus Kuba. Sie sahen zwar nicht schön aus, schmeckten aber lecker süß. Woher die Bananen vor dem Fest kamen, weiß ich nicht mehr so genau, ich denke aber aus Ekuador.
Wollte ich die begehrten, aber seltenen Früchte für den Weihnachtstisch haben, musste ich Tage zuvor am Stand nachfragen, wann wohl mit der Lieferung zu rechnen wäre. Die Verkäuferinnen waren nett und gaben Auskunft, wenn man selber nett zu ihnen war. Meistens war das Sonnabend vormittags. Dann hieß es, morgens um 8.00 Uhr da zu sein, um sich möglichst weit vorne in die Warteschlange einzureihen. Ein Kilo Orangen, ein Kilo Bananen - mehr gab es nicht. Ich war glücklich und zufrieden. Konnte ich sie doch mit nach Lychen zu meiner Familie nehmen. Noch Lebkuchen, Schokolade oder Vitalade und Pralinen - und die bunten Teller waren gesichert. In Lychen bekam man so etwas kaum im Handel. Deshalb war die Markthalle so wichtig in der Winterzeit.
In der Frühlingszeit bot die Markthalle etwas Besonderes für den Planzenfreund. Hinten links an der Ecke gab es drei Privatstände von Gärtnern. Sie hatten ihr Blumenzwiebel-Sortiment ausgelegt und verkauften Pflanzenraritäten. Dort hatte ich in den 1980er Jahren meinen ersten frostharten Cham-Bambus gekauft: ein langer Stiel mit ein paar Blättern ganz oben für 12,- DDR-Mark. Der hat sich wunderbar im Garten vermehrt, ist üppig gewachsen, bis er eines Sommer blühte. Danach starb der ganze Bambus ab und war aus dem Garten verschwunden.
Am Blumenzwiebelstand gab es auch zur gleichen Zeit ein paar große, lange Zwiebeln der weißen Hakenlilie (Crinum x powelli). So etwas kannte ich noch nicht. An den Preis kann ich mich nicht mehr erinnern. aber es waren keine Pfennige. Auch hier kaufte ich nur eine große Zwiebel. Zu Hause pflanzte ich sie in gute, etwas lehmige Erde. Die Hakenlilie fühlte sich wohl und trieb ihren langen Blütenstand mit den weißen Glocken. Auch Brutzwiebeln entwickelten sich. Über die kalte Jahreszeit bewahrte ich die Zwiebeln in trockenem Sand im Keller auf. Mit den Jahren entwickelte sich ein größerer Bestand.
Dann passierte etwas Unerwartetes. Ich brach mir im Spätherbst ein Bein und war deshalb lange Zeit im Krankenhaus. Mein Bruder rettete nur wenige Zwiebeln vor dem Frost. Über Winter waren sie auch nicht gut gelagert. Schließlich blieb nur eine blühfähige Zwiebel übrig. Um diese kümmerte ich mich wieder mit Sorgfalt, pflanzte sie nicht in den Garten sondern ließ sie im Kübel wachsen. Jedes Frühjahr bekam der Kübel neue frische Erde, immer mit etwas Lehm vermischt. Aus einer Hakenlilie wurden in den letzten zehn Jahren wieder vier große mit zahlreichen Tochterzwiebeln. Und zu meiner Freude blühen sie jeden Sommer in voller Pracht.