Steinschlacht an der Tornow-Straße
In gewisser Weise können wir, die wir in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind, uns „Trümmerkinder“ nennen, denn nur allzu gerne haben wir bis in die 1950er Jahre hinein in den Ruinen unseres damals zu 60 Prozent zerstörten Lychens gespielt.
Der Kirchplatz war fast täglich nachmittags Treffpunkt für unsere kleine Clique aus Mädchen und Jungen. Oftmals spielten wir dort Murmeln. Besonders beliebt waren die großen, bunten Glasbucker, die zuerst einmal beguckt wurden, wer wohl diesmal die Schönsten mitgebracht hatte. Hatten wir vom Murmeln genug, turnten wir an den Resten des alten Holzzauns, der vor dem Krieg den Platz zur Kirchstraße abgrenzte. Als besonders mutig galt derjenige, der von oben auf der Stange sitzend die Rolle rückwärts konnte.
Immer wieder aber zog es uns in die Mauern der ausgebrannten Häuser an der hügligen Tornow-Straße, die ziemlich steil zur Vogelgesangstraße hinunterführte.
Unten an der Ecke stand noch die Fassade mit hohlen Fenstern des Hauses, das einmal Balls gehört hatte. Etwas höher, auf der Terasse des Grundstücks von Malermeister Rander, blühte im Mai ein violetter Fliederbusch im verwilderten Vorgarten. Im Innern lagen Steine, Sand und Mörtel der zusammengefallenen Mauern in hohen Haufen über dem Kellergewölbe. Dort war es gefährlich herumzusteigen, denn jederzeit konnte das Gewölbe einbrechen.
Etwas weiter höher befand sich die Ruine des Vorderhauses von Weimanns bereits weitgehend geräumt, denn die Familie hatte sich hinten auf dem Hof ein Fertigteilhaus als Unterkunft hingestellt.
Am sonnigsten aber lag die Ruine von Stimms. Mutter Ida hatte den Vorgarten auf der Terasse wieder mit Blumen bepflanzt. Durch die offene Hausfassade gelangte man über den freigeräumten ehemaligen Steinfußbodenkorridor zur kahlen, hinteren Hausmauer, durch die eine Tür auf den Hof führte. Maurer Herrmann Stimm hatte den massiven Stall und die Waschküche zur Wohnung ausgebaut. Dort lebte er mit Frau und Tochter Doris, einer meiner Spielkameradinnen.
Die Mädchen hatten ihre Puppen, Kistchen und Kästchen, kleine Töpfe und Pfannen, aber keine Puppenstuben. Deshalb machte ich mich zum Baumeister.
Vorn, auf ihrer Ruine, oder noch viel lieber im zerfallenen Armenhaus daneben, fügte ich lose, manchmal mit Lehm, aus Ziegelsteinen die Wände zu Puppenhäusern zusammen. Hinten blieben sie offen. Auf der Vorderseite brachte ich die Fensterkreuze aus Holzstäben an. So konnten die Puppenmütter ihre Zimmer einrichten. Manchmal waren sie besonders anspruchsvoll, und ich musste noch eine Etage mehr draufsetzen. So spielten wir unter freiem Himmel in den Steinhaufen, denn Spielzeug gab es zu jener Zeit wenig zu kaufen.
Schon etwäs älter, so mit neun oder zehn Jahren, machte „Räuber und Gendarm“ viel mehr Spaß. Einer war Gendarm, die anderen die Räuber. Schnell liefen die Räuber los und versteckten sich in Nischen, hinter Mauern und unter Gewölben. Der Erste, den der Gendarm erwischte, war der neue Polizist. So ging das Spiel wieder von vorn los bis in die Abendstunden. Oftmals erst nach dem Ruf der Mütter zum Abendessen kehrten wir nach Hause zurück.
Bei dieser harmlosen, wenn auch manchmal gefährlichen Spielerei ist es aber nicht geblieben. Wir Kleineren gerieten nämlich in die Fänge der Älteren, 14-bis15jährigen. Unter denen hatten sich zwei Gangs formiert, die in bittere Feindschaft geraten waren. Dorit Sellin hatte einen älteren Bruder, Horst. Der scharte uns um sich gegen seinen Rivalen Wolfgang Ratzloff. Zu dessen Gruppe gehörte zu meinem Ärger auch mein Freund Peter Steffen.
An einem Sommernachmittag trommelte uns Horst zusammen und erklärte uns in richtiger Anführermanier: „Morgen nachmittag treten wir gegen Ratzloff an. Mit einer Steinschlacht werden wir ihn schlagen, dass er ein für allemal genug hat! Um 15.00 Uhr treffen wir uns hinter dem Giebel des Armenhauses. Jeder wird dort Position beziehen und vorher einen Haufen eiergroßer Wurfsteine sammeln. Ratzloff wird von unten her, vom Weimannschen Grundstück aus, angreifen.“
So richtig wohl war uns nicht zumute, denn die Mädchen sollten ebenfalls dabei sein. Horst Schwester Dorit putschte uns noch ordentlich auf. Ging es doch um die Ehre ihres großen Bruders!
So traten wir also am nächsten Nachmittag an. Wir bezogen hinter dem alten, roten Backsteingiebel der Ruine des Armenhauses Stellung und warteten gespannt ab.
Plötzlich ertönte von unten ein Pfiff herauf. Und schon flogen die ersten Geschosse auf uns zu. Wie aus einem Schützengraben mussten wir immer wieder aus der Deckung herausgehen, um zu sehen, wohin wir unsere Steine werfen mussten. Auf „Mann“ wurde nämlich gezielt. Schnell duckten wir uns, wenn ein Geschoss des Gegners auf uns zuflog. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange das so ging. Jedenfalls weiß ich heute noch, dass ich in einem unbedachten Augenblick an der rechten Giebelseite den Kopf rausstreckte und – klacks – traf mich ein Stein an der Stirn! Ich blutete und lief schnell nach hinten, am Kirchplatz vorbei nach Hause.
Meine Mutter war entsetzt. Sie wischte mir Stirn und Gesicht ab, und schimpfte mächtig mit mir. Zum Glück war es nur eine Platzwunde, die allerdings eine Woche dauerte, bis sie verheilt war.
Wer als Sieger aus der Steinschlacht hervorgegangen ist, kann ich nicht sagen. Mir ist so, als wäre später die Polizei sowohl bei Ratzloffs als auch bei Sellins gewesen.
Zum Glück war das die erste und die letzte Steinschlacht in der Tornow-Straße, in dem sonst so friedlichen Lychen.