Erinnerungen an die Wendezeit in den Jahren 1989/90
Gesprächsrunde mit Zeitzeugen über die Bürgerrechtsbewegung in Lychen
Der Monat November gab vielerorts Anlass, an den Fall der Mauer vor 30 Jahren zu erinnern und auf Gedenkveranstaltungen die friedliche Revolution in der damaligen DDR zu würdigen. In Lychen hatte das Kulturbüro e. V. Zu einer abendlichen Gesprächsrunde über den Herbst 1989 in unserer Stadt für Sonntag, den 17. 11., 18.00 Uhr eingeladen.
Ich habe die Veranstaltung besucht und war gespannt, wer alles an diesem brisanten Thema interessiert war, vor allem aber, wer von den aktiven Lychener Bürgerrechtlern zu dieser Gesprächsrunde kommen würde.
Der Kinosaal füllte sich zusehends. Ich blickte in die Runde und freute mich, dass besonders viele neue Lychener im großen, mehrreihigen Halbkreis Platz genommen hatten. Als Mitglieder des Lychener Bürgeraktivs der Wendezeit sah ich u. a. Hans- Joachim Lischka, Dieter Sommerfeld, Christian Krasemann, Siegfried Radis, Anette Kndervater, damals noch Jablinski.
Als Moderatorin begrüßte die Lychener Journalistin Birgit Bruck alle Anwesenden und gab als Einleitung Start für vier kurze Videos, in denen die Bürgerrechtler Dr. Elke Schumacher, Jürgen Rempt, Siegfried Radis und Christian Krasemann bewegende persönliche Erlebnisse in Wort und Bild wiedergaben.
Die emotionelle Stimmung steigerte sich, als Hans-Joachim Lischka über Missstände und ungelöste kommunale Probleme in Lychen vor der Wende berichtete. Die Umweltsituation war katastrophal. Die Sowjetarmee verseuchte Wälder und Gewässer mit Militärmüll. Dagegen vorzugehen war tabu. Kritik und Protest gegen diese Zustände machten ihn zum missliebigen Bürger für die Behörden. Versorgungs- und Wohnungsprobleme, wachsender Unmut wegen Willkür und bürgerfremder Kommunalpolitik heizten die Stimmung unter der Bevölkerung an.
Ermutigt durch die Montagsdemos in den Großstädten Leipzig und Berlin fanden auch in Lychen ab Oktober 1989 die ersten Aktionen statt. Über diese und nachfolgende Ereignisse berichteten die Bürgerrechtler aus eigener Sicht auf unterschiedliche Weise, getragen von starken Emotionen.
In der nachfolgenden Darstellung beziehe ich mich auf das Protokoll des Lychener Historienstammtisches vom 25. 11. 2008 zum Thema: „Die Bürgerrechtsbewegung aus unserer Sicht“. Damals hatten Dr. Elke Schumacher, Christian Krasemann und Hannelore Lubitz ausführlich die Ereignisse bis zur Kommunalwahl am 06. Mai 1990 geschildert.
Die erste Veranstaltung fand am 24. Oktober 1989 auf dem Marktplatz statt. Gut organisiert sollen auch Pechfackeln verteilt worden sein. „Wir hatten den Eindruck“, so Christian Krasemann, „das dies eine fingierte Demo war. Am 26. oder 27. Oktober fand das erste Friedensgebet in der Kirche statt. Auch das war perfekt vorbereitet. Wahrscheinlich steckte die Stasi dahinter.“
An einem dieser Tage, so Dr. Elke Schumacher, zog in Lychen die erste Demo mit Kerzen zum Haus von Bürgermeister Winfried Müller. Wir waren 25 Leute.
Am 1. November 1989 fand dann die zweite große Demo in der Sporthalle statt. Als wichtigstes Ergebnis wurde an diesem Tag das Bürgeraktiv gebildet. Ihm schlossen sich u. a. folgende Bürger an: Sommerfeld, Jablinski, Rensch, Kunz, Wichmann, Schumacher, Schumacher, Radis, Boshold, Rempt, Miertzschke, Luitz, Krasemann, Lischka, Herrmann, Stübs und Gemballa.
Das Bürgeraktiv hatte sich am 6. 11. 1989 konstituiert. Die Teilnehmer trafen sich Donnerstags abends in der Lychener Mühle als formierte und als eingetragener Verein legitimierte Gruppe.
Das Bürgeraktiv organisierte von November 1989 bis März 1990 Demos und Kundgebungen wie z. B. an der Freilichtbühne (Vorstellung des Bürgeraktivs, Bericht über die Besichtigung des Sonderjagdgebietes Malendorf, Stellungnahme zum Entwurf des Reisegesetzes), Bürgerversammlungen in Lychen mit Forderungen wie „Rückgabe der Objekte Dreiseen des AfNS und Reiherhals des BDVP an die Örtlichen Räte, Demonstration nach Schlüßhof gegen verfälsche Propaganda, Verschleppungstaktik und Ablenkungsstrategie der SED/PDS, den fragwürdigen Besitz von Objekten, deren Nutzer die SED/PDS ist, gegen Nachzahlungen für Stasi- und SED/PDSMitgieder, Schlüßhof und Lindenhof den Lychenern, Reiherhals der Gemeinde Retzow“.
Demonstration zum PDS-Heim Lindenhof mit der Forderung nach Übergabe des Heimes an das Gesundheitswesen.
Bürgerversammlungen mit Kerzen fanden statt im Saal des VEB Möbelwerke (Formschaum), im Lychener Kino mit geladenen Gästen aus dem Staatsapparat ( 1. Stellvertreter des Rates des Kreises Templin,Herr Leu: Sekretär des Rates des Kreises Templin, Frau Einsporn; Sekretär des Rates des Kreises, Herr Kobelka; Herr Lück, Lychener Bürgermeister; Abt. Inneres/Wohnungspolitik, Frau Sperling; Vorsitzender der Nationalen Front Herr Brandt; Volkskammerabgeornete Frau Berg; und die Leiter der Objekte Schlüßhof und Lindenhof. Die Bürger konnten ihre Fragen stellen. Der Saal war immer voll. Flugblätter wurden vorher verteilt, auf denen die Lychener aufgefordert wurden, sich an diesen Aktionen zu beteiligen.
n Vorbereitung der Kommunalwahlen am 06. Mai 1990 hatte das Bürgeraktiv Flugblätter verteilt, auf denen es seine programmatischen Forderungen bekannt gab:
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eine durchschaubare Kommunalpolitik auf der Grundlage öffentlicher Diskussionen
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eine parteiunabhängige, gerechte Behandlung eines jeden Bürgers
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eine Entwicklung unserer Stadt, die die kommunalen Interessen berücksichtigt
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eine saubere Umweltsituation
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eine soziale Absicherung von Alters- und Invalidenrentnern sowie sozial Schwachen
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eine Einflussnahme der Bürger auf die städtebauliche Entwicklung.
PARTEIHÖRIGE kOMMUNALPOLITIKER HATTEN WIR!
BASISDEMOKRATISCHE POLITIKER BRAUCHEN WIR!
WÄHLT LISTE 3!
Liste 3 war die Liste des Bürgeraktivs mit ihren Kandidaten für die Kommunalwahl.
Noch in der Zeit vor den Wahlen besuchte das Lychener Bürgeraktiv am 9. Dezember 1989 zusammen mit Vertretern des Kreiskomitees zur Aufklärung der MfS-Tätigkeit die Stasi-Einrichtung in Templin. 10.000 Bespitzelungsakten von Bürgern des Kreises sollten dort angelegt worden sein. Die Akten waren allerdings verschwunden und wahrscheinlich bereits nach Neubrandenburg gebracht worden. Die Stasi war oft bei Bürgerrechtsaktionen zugegen, denn sie wollte wissen, wer dabei war. Es hat Pläne und Listen gegeben, so Hans-Joachim Lischka im Alten Kino, welche Personen nach Niederschlagung der Bewegung im Lager Dreiseen bei Küstrinchen interniert werden sollten. Die SED-Kreisleitung ließ ihre Genossen nicht fallen. Als der Lychener Bürgermeister Winfried Müller auf Protest der Bürger seinen Posten räumen musste, erhielt er danach einen neuen Posten im Rat des Kreises Templin. Das Bürgeraktiv hatte dazu eine Protesterklärung verfasst und an den damaligen Ratsvorsitzenden Anders geschickt. Am 11. Januar 1990 war das auch u. a. Thema einer Demo.
Nach den Kommunalwahlen löste sich das Bürgeraktiv auf. Abgeordnete der Parteien regierten fortan im Stadtparlament. Ideologie trat in den Hintergrund, materielles Interesse in den Vordergrund mit allen nachfolgenden bekannten Problemen.
Als demokratische Form der Bürgerbeteilgung an der Kommunalpolitik hatte sich in der Wendezeit der „Runde Tisch“ gebildet und bewährt. In Lychen trafen sich dessen Mitglieder im Rathaus. Sie fassten Beschlüsse, die dann in der Stadtverordnetenversammlung diskutiert werden sollten. Der „Runde Tisch“ tagte bis zu den Wahlen.
Blicken wir wieder nach vorn in die Gegenwart. In jüngster Zeit sollte nach der Bürgerbefragung zum großen Stadthafen und dessen mehrheitliche Ablehnung wieder ein „Runder Tisch“ mit Bürgerbeteiligung für die Entscheidung über die Zukunft des ehemaligen GPG-Geländes am Stadtsee ins Leben gerufen werden. Vor allem deshalb, weil städtebauliche Planungen und Entscheidungen vorrangig im Allgemein- und weniger im Privatinteresse liegen. Die Abgeordneten der LTG-Fraktion haben diesen „Runden Tisch“ abgelehnt und versagen damit kompetenten Lychenern außerhalb der Stadtverordnetenversammlung das demokratische Beratungs. und Mitbestimmungsrecht bei der Lösung dieser wichtigen kommunalen Aufgabe. Für mich hat das den Anschein, das hier wieder einmal handfeste materielle Interessen intern, ohne Öffentlichkeit, durchgesetzt werden sollen. Basisdemokratie scheinen manche heute wieder genau so wie früher zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Und weshalb, das weiß inzwischen jeder, der die Lehren aus der Wendezeit bis heute gezogen hat.
Joachim Hantke