Das Gänsemädchen und die Lychener Glocke
Eine Lychener Sage von Gustav Metscher
Unter den vielen Seen, die wie ein blauer Perlenkranz um die Stadt Lychen liegen, gilt der Wurlsee als einer der schönsten. Seine Wasser zeigen eine wunderbar
schöne, tiefe Bläue, und an seinem Südufer rauscht es in den Waldwipfeln von alten Sagen und Mären.
Einstmals soll an den Ufern des Wurlsees eine blühende Ortschaft mit Namen Wurdow gelegen haben. Aber die Wurdower Einwohner seien böse Menschen gewesen, die von ihrem Herrgott im Himmel nichts
wissen wollten. Dazu waren die Männer dem Trunke ergeben, und die Frauen fanden niemals die rechte Grenze zwischen Mein und Dein. Da die Leute es gar zu toll trieben und sich nicht mehr warnen
ließen, trug es sich eines Tages zu, dass ein mächtiges Gewitter über die Gegend zog, so eins, wie es die ältesten Lychener während ihrer gesamten Lebenszeit niemals über ihrer Heimat gesehen
haben. Tag und Nacht rollten die Donner mit ungeheurem Lärm durch die Wälder, und Tag und Nacht wich das Feuer des Blitzes nicht von der Stelle.
Die Lychener Bürger, kleine und große, alte und junge sanken auf die Knie und schickten ein Gebet nach dem anderen zum Himmel, dass Gott nun endlich seinen Donnerwagen weiterfahren möge.
Was aber die Wurdower waren, die ließen sich vom Dorfkrüger den Krug immer wieder aufs neue füllen und ließen auch bei den stärksten Donnerschlägen nicht ab zu höhnen. Als dann endlich am
nächsten Mittag die Donnerschläge schwächer und die Blitze seltener wurden, traten die Lychener Bürger vor ihre Häuser, um Ausschau zu halten, wohin das Wetter abgezogen sei. Gegen Westen
entdeckten sie einen schwefelgelben Himmel hinter den Wäldern. Als sie eine Zeit lang so vor ihren Häusern standen, kam ein Bote zum Tor hereingeritten. Der brachte die böse Kunde mit, nämlich,
dass in der vergangenen Nacht das Dorf Wurdow mit Mann und Maus, mit Kind und Kegel im Wurlsee untergegangen sei. Durch die Gewalt eines harten Donnerschlages sei es im Nu mit seinen Häusern und
Menschen in die Flut der aufgewühlten Wellen geflogen und nun dort in dem Wasser versunken.
Mann eilte sofort nach der Stelle, wo das Dorf zuvor gestanden hatte. Alles, was Beine hatte, stürzte zum Tor hinaus. Stumm vor Staunen stand man am Ufer des Wurlsees. Nichts war mehr von dem
Dorf übrig geblieben, kein Stein, kein Stück einer Mauer. Alles lag in der Tiefe des Sees von Wellen begraben. Stumm und mit ernsten Gesichtern zogen die Lychener von dannen, um zu Hause in der
Stille des Kämmerleins ihrem Herrgott zu danken, dass sie von dem bösen Wetter verschont geblieben waren.
Seit jenem furchtbaren Gericht über die Bosheit der ehemaligen Wurdower waren viele, viele Jahre ins Land gegangen. Über der Landschaft stand wieder eine freundliche Sommersonne. An den Abhängen
des Wurlseegestades hütete ein kleines Mädchen ihre Gänselein. Sie sang dabei, flocht sich Kränze aus bunten Sommerblumen und knickte sich Ketten aus langen Pflanzenstengeln. Da das Wetter schön,
und das Wasser warm war, planschte sie auch mit den nackten Füßen in den sanften Wellen, netzte sich das Haar und wusch ihr Taschentuch. Zum Trocknen legte sie dasselbe auf einen der drei großen
Steine, die am Ufer lagen. Es dauerte gar nicht lange, da hatten es die heißen Steine getrocknet. Es war gerade um die Mittagszeit. Die Turmuhr der Lychener Stadtkirche ließ ihre zwölf Schläge
durch die Stille ertönen. Da, auf einmal, ganz geräuschlos, fingen die beiden großen Steine an, in den See hinein zu wandern. Das Gänsemädchen staunte nicht wenig über das Ereignis und verfolgte
mit großen blauen Augen das Wunder. Als die Steine dicht am Wasser waren, hörte das Mädchen eine Stimme rufen: "Anna-Susanna, wenn du willst, dann komm mit!" Die Steine, die da ins Wasser
rollten, waren keine gewöhnlichen Feldsteine. Es waren die zu Stein gewordenen Glocken der ehemaligen Wurdower Kirche.
Nun waren auch sie versunken in den Wellen des Wurlsees. Niemans sah sie mehr. Nur Sonntagskinder vernehmen ihren Klang, wenn sie einmal am Wurlsee vorüberkommen. Die dritte Glocke aber, auf der
das Taschentuch der Gänsemagd ruhte, konnte nicht ihren beiden Schwestern in die Tiefe folgen, dieweil das Taschentuch sie wie ein Bann an der Fortbewegung hinderte. Später brachte man sie nach
Lychen und hängte sie in dem Kirchturm der Kirche auf. Dort soll sie noch heute irgendwo im Glockengestühl hängen - unsichtbar für den gewöhnlichen Sterblichen.