Erinnerungen und Schicksale der Apotheker-Familie Spangenberg (Teil II)
Renate Mertens erzählt eine Lychener Lebensgeschichte
Bevor Sie, liebe Freunde, den zweiten Teil lesen, bitte ich Sie um Verständnis und Nachsicht für die Korrektur eines Fehlers, der mir im I.Teil unterlaufen ist. Das Bild mit der Unterschrift „Hans Spangenberg, portraitiert von Jochen Grieben“ stellt in Wirklichkeit Renate Mertes Großvater väterlicherseits dar.
J. H.
Der I. Teil dieser Lychener Lebensgeschichte endet mit der Beschreibung eines Holzschnittes, den Jochen Grieben, Renate Mertens Vater, von der Fotografin Gerda Maria Spangenberg angefertigt hatte, wie sie ihre Freizeit am liebsten mit Hund und Buch im Paddelboot verbrachte. Hier dazu das Bild:
Gerda Maria Spangenberg im Paddelboot. Holzschnitt von Jochen Grieben.
Und so geht die Lebensgeschichte weiter:
Gegen Kriegsende – April 1945 -, ich besuche noch die Oberschule in Hohenlychen, müssen wir uns entscheiden: Vor den Russen flüchten und alles verlassen, oder dableiben und alles ertragen. Mein Vetter Peter, gerade erst 10 Jahre alt geworden, fährt mit seiner Mutter im letzten Hohenlychener Krankentransport gen Westen nach Flensburg. Meine Mutter, Großmutter und ich – 13 Jahre alt – ziehen mit einem Handwagen, beladen mit dem Nötigsten, darunter zum Glück unser Fotoalbum, nach Kuckuckswerder, um den Vergewaltigungen zu entgehen.Mein Großvater und sein Bruder Alfred wollten das Haus bewachen.
Alfred (l.) und Hans (r.) Spangenberg. 1934.
Die durch die Stadt ziehenden Truppen drangsalieren und bedrohen sie jedoch so sehr, dass mein Großvater es vorzieht, zu Bekannten auf einen weit entfernten Bauernhof zu gehen. Mein Onkel nimmt sich schließlich – wie so viele Lychener – das Leben. So erlebt er wenigstens nicht, dass seine geliebte „Pillenbude“ wie die halbe Stadt in Flammen untergeht.
Wie meine Großeltern und meine Mutter diese Katastrophe verkrafteten, weiß ich nicht. Ich erinnere mich an keine Gespräche darüber. Es ging nur um das Überleben: wo eine Wohnung finden, womit sich einrichten, wovon leben, wo Essen finden und sich vor den Soldaten schützen.
Gleich nach dem Krieg wird die Apotheke wieder gebraucht. Zunächst wird im Hause Heyer in der Fürstenberger Straße eine Wohnung mit Laden dafür eingerichtet. Medikamente „dürfen“ meine Mutter und Erika Krasemann als Krankenschwester aus der Apotheke der Heilanstalten holen, die nun von den Russen besetzt sind, ebenso wie aus einigen ehemaligen Materiallagern der deutschen Wehrmacht irgendwo in den Wäldern. Per Pferdewagen geht es dorthin unter russischer Bewachung. Ansonsten sammeln wir Holzkohle aus den Trümmern gegen Durchfall und Heilkräuter für Tees. Mein 72jähriger Großvater kann zu der Zeit nur noch seinen Namen als Apotheker geben. Die eigentliche Arbeit leisten die beiden Frauen. Bald kommt dazu Frau I. Scherfling, spätere Lattermann, als Vorexaminierte.
Als Monate später wieder Züge nach Berlin verkehren, kann meine Mutter die nötigsten Medikamente in Westberlin einkaufen, weil die Sektorengrenzen mit der S-Bahn noch durchlässig sind.
Hanna Spangenberg. 1946.
Ich selbst gehe derweil ab Herbst 1946 weiter zur Oberschule, jetzt in Neustrelitz, denn die Oberschule in Hohenlychen gibt es nicht mehr und komme nur selten an den Wochenenden nach Hause.
Inzwischen wohnen wir mitsamt der Notapotheke im ersten Stock über der damaligen Sparkasse.
Hans Spangenberg war der geliebte Garten geblieben. 1946
Im Oktober 1948 stirbt Großvater Hans Spangenberg. Sofort wird die Notapotheke mit allem Inventar, den Regalen, Schränken und dem Medikamentenbestand, allem, was Mutter mit viel Kraft, Geld und Beziehungen „organisiert“ und angeschafft hatte, enteignet und ohne irgendeine Entschädigung verstaatlicht.
Apotheker Rehdorf wird als leitender Angestellter eingesetzt, unter dessen Regie meine Mutter und Frau Lattermann wenigstens weiterarbeiten dürfen.
!950 stirbt meine Großmutter Hanna. !951 beginne ich nach dem Abitur die Gärtnerlehre bei Richard Ambellan am Stadtsee als Voraussetzung für mein angestrebtes Gartenbau-Studium.
Unser weiteres Schicksal dürfte in Lychen bekannt sein.
Im Februar 1953 wird meine Mutter nach einer Medikamenten-Einkaufsfahrt als vermeintliche „Republikflüchtige“ in Berlin verhaftet. Ich fliehe darauf hin – eigentlich ungewollt – nach Berlin, um der ebenfalls vorgesehenen Verhaftung zu entgehen. Der Aufstand des 17. Juni im selben Jahr bewirkt einige Amnestie-Gesetze, aufgrund derer die schon erfolgte Verurteilung aufgehoben und meine Mutter nach sechs Monaten freigelassen wird – natürlich ohne jegliche Entschädigung.
Ein Jahr später kommt auch sie in den Westen. Als Rest der einstmals großen Familie hatten wir alle Angehörigen, allen Besitz und alle Rechte verloren.
Hier, im Rheinland begannen wir einen neuen Lebensabschnitt. Aber die Liebe zur Heimat haben wir nie verloren.
Mutter hat Lychen bis zu ihrem Tod 1970 nicht wiedergesehen. Ich durfte 1973 erstmals besuchsweise mit meinem Mann und unseren drei Kindern einreisen. Es war ein bewegendes Wiedersehen mit dem Städtchen, das sich noch kaum verändert hatte. Noch immer lag der Kern des Ortes in Trümmern, auch unser Apothekengrundstück, das uns grundbuchgemäß immer noch gehörte bis kurz vor der Wende. Dann wurde uns auch dieses noch 1988 ohne Entschädigung enteignet, damit der DDR-Staat Neues darauf bauen konnte. Die Neubauten am Markt wurden nach der Wende von der WOBAG übernommen. Unsere bundesdeutsche Justiz hat die Enteignung durch die DDR als gültig anerkannt und dies mit dem Deutschland-Vertrag begründet.
Was bleibt, sind schöne Erinnerungen und der Wunsch, dass Lychen sich endlich von dem unseligen Krieg und seinen Folgen erholen möge und neuen jungen Familien Arbeit und Brot und vielen Urlaubern Erholung und Freude an den Seen und Wäldern schenken möge!
Zuletzt: Der letzte Namensträger Spangenberg, mein Vetter Peter, lebt verheiratet, aber kinderlos als Kapitän i. R. bei Bremen.
R. M.