Unser wokes Weihnachtsfest

Veröffentlicht auf von anais

Zensseepromenade im Dezember.

Zensseepromenade im Dezember.

Weihnachten ist bei uns schon immer der familiäre Höhepunkt des Jahres gewesen.

Schauten die Nachbarn von der Straße in unsere Fenster hinein, so flüsterten sie sich mit staunenden Augen zu: „Guckt mal! Bei Eichenbrunns leuchten jetzt schon die Kerzen am Weihnachtsbaum“. Gleich nach dem 4. Advent nämlich schmückten wir den Baum und ließen ihn strahlen über das Fest bis in das neue Jahr hinein.

Mittlerweile sind unsere Kinder bis auf Krischi groß geworden. Kläuschen ist jetzt Klaus und Annalena studiert zurzeit an der Goethe-Universität in Frankfurt/ Main, Gender Studies, Bachelor, 6 Semester.

Hellauf begeistert vom Studium belebt sie mit ihren für uns neuen Erkenntnissen unser Familienleben. Sie ist jetzt vor dem Fest schon zu Hause und hat uns angekündigt, dass sie unser Weihnachtsfest auf zeitgemäßes Niveau bringen möchte. Alte Zöpfe sollten abgeschnitten, veraltete Menschenbilder überholt und Diskriminierungen jeglicher Art beseitigt werden. „Gemeinsam“, so Anna, „wollen wir das Weihnachtsfest woke, also mit wachsamem Bewusstsein, begehen“.

Vater Olaf möchte wissen, was sie mit „woke“ meint. Anna erklärt ihm, das „woke“ und „Wokeness“ aus dem Amerikanischen kämen und der heutige Inbegriff für soziale Gerechtigkeit seien. Diskriminierende Erscheinungen in Kultur, Sprachgebrauch und Alltagsleben sollen überwunden und durch gerechte ersetzt werden. Vater versteht das und denkt so bei sich: „Na, wenn das aus dem Amerikanischen und aus den USA kommt, wird das schon richtig sein“.

„Überlege mal“, fährt sie fort. „Jesus, das Christkind, wurde von den heiligen drei Königen aus dem Morgenland beschenkt. Unser Weihnachtsmann hier ist ein alter, weißer Mann mit weißem Bart aus dem Norden. Der passt nicht in das multikulturelle Weltbild, das wir erstreben. Als Sinnbild von kolonialer Ausbeutung und Unterdrückung trägt er die Last des weißen Kolonialismus.“

Vater Olaf ist irritiert, denn er hat mit den Jahren selbst weißes Haar bekommen.  „Außerdem ist dieser Weihnachtsmann, so wie wir ihn heute überall sehen, ein Produkt von Coca-Cola, einem kapitalistischen Konzern“, fügt seine Tochter hinzu.

„Wir werden uns von einem der Heiligen Drei Könige, nämlich von Melchior, beschenken lassen. Dafür habe ich meinen Studienfreund Benjamin eingeladen.  Melchior steht für Afrika, wo auch viele Christen das Fest feiern. Benjamin kommt auf seinem Elektro-Roller zu uns, trägt keinen schweren Sack, sondern einen leichten Camping-Beutel.“

Der Vater fährt sich mit der Hand durch das weiße Haar und sagt: „Ich freue mich auf Benjamin und heiße ihn jetzt schon willkommen.“

Annalena wünscht sich in Vorbereitung des Weihnachtsfestes, dass ihr großer Bruder Klaus – der ist Tischler – das Krippenspiel wieder etwas aufarbeitet und dem Melchior eine schlankere Figur mit dem Schnitzmesser gibt.

So laufen bei Eichenbrunns die Vorbereitungen zum Fest auf Hochtouren. Anna schaut sich die Nordmanntanne an, die noch auf dem Hof steht und denkt an die Beleuchtung. Die elektrische Lichterkette war nicht teuer, weil sie aus China stammt. Elektrik und Elektronik von dort sind ihr suspekt. Besser und sicherer wäre es, wenn echte brennende Kerzen an den Baum kämen.

Dann holt sie aus dem Keller den Baumschmuck nach oben, schaut sich die roten und silbernen Kugeln an, ob welche angeschlagen sind. Sie sind aber alle o.k. Bei den bunten Figuren sortiert sie genauer, nimmt die kleinen Zwerge heraus und zeigt sie gleich Vater Olaf: „Also, Papa, Zwerge, wo sie überall vorkommen, in Märchen und Sagen, in Gärten und Vitrinen und hier als Christbaumschmuck sind eine Diskriminierung kleinwüchsiger Menschen. Das sollten wir nicht dulden. Diese hier kommen in den Müll. Und im Frühjahr platzieren wir keine Gartenzwerge mehr in unseren Vorgarten. Verstanden? Vater nickt und staunt, an was man heutzutage alles denken muss.

Kurz vor dem Heiligen Abend sieht Annalena zufällig, wie ihr kleiner Bruder Krischi mit seinem Pittiplatsch, dem Lieben, spielt.

 Anna überlegt: „Dieser Pittiplatsch aus der Sandmann-Serie im Fernsehen ist ja eigentlich keine richtige Puppe mit menschlichem Aussehen. Schwarze Puppen in weißen Kinderhänden? Das geht nun mal gar nicht. Pitti ist ein schwarzer Kobold. Aber er spricht und agiert wie ein Mensch. Zwar steht er noch nicht auf dem Index.  Aber vorsichtshalber sollte er Veränderung erfahren.

Als Krischi dann zu Bett gegangen ist, nimmt Annalena den Pittiplatsch an sich.

Mutter Alice kommt gerade drauf zu und möchte wissen, was ihre Tochter mit dem Kobold

vorhat.

„Ich werde ihn für Krischi zum Fest neu herrichten“, erklärt Anna und zeigt dann auf Mutters Haar: „Du trägst immer noch als blonde Frau diese Dreadlocks. Farbige haben doch diese Frisur einstmals kreiert, um ihren Unmut gegen rassistische Diskriminierung kundzutun. Wenn Du solche geflochtenen Zöpfe auf Deinem Kopf trägst, ist das kulturelle Aneignung. Sowas steht Dir nicht zu.“

 Alice schüttelt den Kopf: „Ich habe diese Frisur immer aus Solidarität mit den Diskriminierten getragen und werde sie weiterhin tragen, meine liebe aufgeweckte Tochter.“ Mutter Alice ist wegen ihres Trotzes für Anna die einzige konterrevolutionäre Person in ihrer Familie.

Annas Studienfreund Benjamin ist inzwischen eingetroffen und in der Familie herzlich aufgenommen.

Zur Bescherung versammeln sich alle um den Weihnachtsbaum mit flackernden Kerzen. Melchior verteilt liebevoll die Geschenke, zieht auch Pittiplatsch aus dem Beutel hervor und überreicht ihn dem mit offenem Mund staunendem Krischi. „Was ist mit meinem Pitti passiert? Der ist ja ganz hell und blass!“

Seine Schwester Annalena erklärt ihrem kleinen Bruder voller Stolz und Selbstzufriedenheit: „Ich habe ihn in die Waschmaschine getan, Oxi-Power Bleichmittel dazu gegeben und auf Feinwäsche geschaltet, damit er heil bleibt“.

 Krischi ist wütend und zieht sich weinend in sein Zimmer zurück. Mutti Alice geht zu ihm und beruhigt ihn: „Komm wieder rein zu uns und lass uns zusammen Karten spielen. Wenn Du möchtest, dann Dein Lieblingsspiel „Schwarzer Peter.“ Krischi willigt ein.

Alle nehmen Platz am großen Tisch. Alice beginnt die Karten zu mischen. Annalena runzelt die Stirn: „Schwarzer Peter spiele ich nicht mit. Was soll denn Benjamin von uns denken!“

 Benjamin versteht Anna nicht: „Lass und das mal spielen. Ich kenne das Spiel noch nicht. Auch Krischi zu liebe.“

So verläuft der Heilige Abend schließlich mit Punsch und Schmalzgebäck in friedlicher Eintracht wie in jedem Jahr. Alice flüstert Benjamin zu: „Früher hieß das Gebäck bei uns Kameruner“.

Vater Olaf bietet Benjamin das „Du“ an. Benjamin bedankt sich und meint zu Olaf: „Ich hätte Dich zu gerne als Weihnachtsmann erlebt.“

Mutter Alice verspricht Krischi: „Morgen fahren wir zum Spielzeugladen und kaufen wieder einen richtigen Pittiplatsch für Dich.“

Und Annalena? Annalena schaut liebevoll zu Benjamin und träumt von einem Kuss von ihm.

Veröffentlicht in Lychener Stammtisch-Geschichten

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V
il est amusant ce texte.. mais je ne supporte pas cette culture woke, c'est elle que je trouve discriminante! bisous Joachim, passe de belles fêtes. cathy
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A
Bonjour Cathy !<br /> Je pense comme toi. C'est pourquoi j'ai écrit cette histoire satirique.<br /> Bisous.<br /> Joachim