Kräftig eingeseift!
In der Lychener Fürstenberger Straße gab es noch in den 1950er Jahren einige Läden und kleine Gewerbeunternehmen. Heute ist die ehemalige Geschäftsstraße so gut wie tot.
In jener lebendigen Zeit des Aufbruchs nach dem Kriege lag an dieser Straße der Salon des Herrenfriseurs Breitzmann. So, wie viele Geschäfte, war das ein langer Schlauch, wie wir sagten. Das Mobiliar stammte aus den goldenen Lychener Jahren der Vorkriegszeit. Der Kunde nahm auf dunkelbraunen, lederbezogenen Stühlen mit Armlehnen und Kopfstützen Platz. Meine Mutter schickte mich als blonden Knaben nur einmal zum Haareschneiden zu Breitzmann. Für mich war das eine Tortur, denn Friseurmeister Breitzmann war nicht der Sanfteste in seinem Metier. Still und geduldig hielt ich das gräßliche Ziepen an meinen Haaren aus. Kündigte Mutter aber zu Hause sofort an: "Da gehe ich nicht mehr hin!"
Nun waren die erwachsenen Männer sicherlich nicht so zimperlich. Außerdem ließ es sich mit Meister Breitzmann, dem langen, schlanken Herrn im weißen Kittel mit grauem Haarschopf und Brille gut plaudern, denn der Friseur war immer und ist noch heute die beste Tageszeitung im Ort.
Erschien ein Kunde nicht regelmäßig sondern erst nach längerer Zeit, fragte ihn der Friseur, wo er sich inzwischen wohl die Haare hat schneiden lassen. Der eine oder andere Aufrichtige, erzählte ihm dann, er hätte sich vom jungen Lehrling Kalle zu Hause frisieren lassen. Das brachte Breitzmann in Wut: "Das ist Schwarzarbeit! Und dann auch noch von einem Lehrling!" Angeschwärzt, so erzählte mir neulich Kalle, hatte er ihn aber nie.
Wenn es ans Rasieren ging, rief er seine hübsche Tochter Erika herbei, die heute fast 90jährige Leiterin der Lychener Mandolinengruppe. Erika half nämlich oft im Salon aus.
"Erika! Komm' mal her! Ich mache jetzt Kaffeepause und gehe nach hinten. Seife Du mal in dieser Zeit den Herrn zum Rasieren ein, bis ich wieder zurück bin." Erika, adrett und akkurat, hat das sehr genau genommen. Sorgfältige wischte sie den Rasierpinsel auf der Seife hin und her, bis genügend Schaum da war. Dann seifte sie den Mann ein. Das wiederholte sie mit stoischer Gelassenheit immer wieder und immer wieder. Nach einer Weile fragte sie der Kunde: "Erika, sag' mal! Ist das nun nicht genug?" Da setzte Erika den Pinsel ab, stellte ihm mit dem Gefäß auf den Frisiertisch, stemmte die Fäuste in die Hüften und schaute den Mann mit großen Augen entrüstet an: "Wie lange Sie hier von mir eingeseift werden, das bestimme immer noch ich! Mein Vater hat gesagt, solange er hinten Kaffe trinkt, soll ich Sie einseifen. Und das tue ich!"
So resolut war unsere Erika damals, und so ist sie noch heute. Ich muss sie mal fragen, ob sie sich daran erinnert, denn das alles hat mir mein Friseur Kalle erzählt.